Noch ist es nicht offiziell, doch alles deutet darauf hin: am 14. Mai 2023 wird in der Türkei gewählt. Die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen werden erstmals unter den neuen Rahmenbedingungen der Verfassungsänderungen von 2018 durchgeführt. Die Wahlen könnten ein Wendepunkt sein und neben einem Regierungswechsel auch einen Systemwechsel einläuten. In unserer aktuellen Sonderausgabe zu den Wahlen in der Türkei informieren wir über das Vorfeld der Wahlen – was wird gewählt, wie werden die Mandate vergeben und welche Gesetzesgrundlagen gelten eigentlich? Welche Rolle spielt der Hohe Wahlrat und wie wird das Thema Wahlsicherheit diskutiert?
Seit Januar 2022 scheint er endlich festzustehen: Der Tag der Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in der Türkei. Der reguläre Termin wäre der 18. Juni 2023 gewesen. Doch Staatspräsident Erdoğan will den Termin vorverlegen, aufgrund „saisonaler Bedingungen“, wie er es ausdrückt. Diese umfassen u.a. den Beginn der Sommerferien und die um das islamische Opferfest herum vermehrt stattfindenden Pilgerfahrten nach Mekka. Als geeignetes Datum nannte der Staatspräsident den 14. Mai 2023, der seither als Wahltermin gehandelt wird.
Es ist nicht übertrieben, die bevorstehenden Wahlen als einen Wendepunkt zu charakterisieren. Nach mehr als 20-jähriger Regierung durch die AKP könnte ein Regierungswechsel bevorstehen. Erklärtes Ziel der Opposition ist die Rückkehr zu einer parlamentarischen Demokratie, so dass mit ihrem Sieg auch ein Systemwechsel eingeleitet werden könnte. Die AKP ist in der vergangenen Dekade zu einer Partei geworden, die sich sehr stark an der Führungsfigur Recep Tayyip Erdoğan ausrichtet. Sollte Erdoğan nicht wiedergewählt werden, so hätte er weder das Staatspräsidentenamt noch einen Sitz im Parlament inne. Es ist vorhersehbar, dass dies die AKP schwer erschüttern würde. Eine Niederlage der Opposition wiederum wäre zugleich auch eine Bestätigung des türkischen Präsidialsystems und würde vermutlich die Kooperation innerhalb der Opposition bedeutend schwächen. Es geht gewissermaßen für beide Seiten um sein oder nicht-sein.
Die Qualität der türkischen Demokratie ist in den letzten Jahren zurückgegangen und auch bei der bevorstehenden Wahl kann von echter Chancengleichheit keine Rede sein. Die Parteien in der Türkei finanzieren sich überwiegend von der staatlichen Parteienförderung, die entsprechend der Ergebnisse bei der vorangegangenen Parlamentswahl quotiert ist. Für 2023 sind 4,5 Mrd. Türkische Lira (TL) als staatliche Parteienunterstützung vorgesehen, wovon 1,5 Mrd. TL zur Auszahlung im Januar angesetzt waren. Davon entfallen auf die AKP allein 653,8 Mio. TL, auf die CHP 348 Mio. TL und auf die HDP 179,8 Mio. TL. Im Zuge des laufenden Verbotsverfahrens gegen die kurdisch-orientierte HDP wurde dieser im Januar 2023 der Zugriff auf die Parteienförderung jedoch gänzlich gesperrt. Darüber hinaus ist der Zugang der Parteien zu den Medien sehr ungleich. Während Oppositionspolitiker_innen kaum Platz in der Berichterstattung der meisten Radio- und Fernsehkanäle finden, wird fast jeder Schritt des Staatspräsidenten live gesendet. Reden des Staatspräsidenten und AKP-Parteivorsitzenden werden in voller Länge übertragen, was bei der Opposition kaum der Fall ist.
Neben den ungleichen Ausgangsbedingungen für die Parteien und Parteienbündnisse werden auch die Verfassungsänderungen sowie weitere Gesetzesänderungen bei den kommenden Wahlen eine entscheidende Rolle spielen.
Die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen 2023 sind die ersten Wahlen, die unter den neuen Rahmenbedingungen der Verfassungsänderungen von 2018 durchgeführt werden. Die türkische Verfassung legt fest, dass die Amtszeit des Staatspräsidenten und die Legislaturperiode des Parlaments fünf Jahre betragen und die Wahlen am selben Tag stattfinden. Für die Änderung des Wahltermins gibt es zwei Möglichkeiten: das Parlament kann sie mit 360 der 600 Abgeordneten beschließen, oder der Staatspräsident kann eine Neuwahl des Parlaments anordnen und muss sein Amt ebenfalls zur Wahl stellen. Da das Regierungsbündnis über keine ausreichende Mehrheit verfügt, ist eine Vorverlegung des Wahltermins durch das Parlament ohne Zustimmung der Opposition nicht möglich. Die Opposition hat bereits erklärt, dass sie vorgezogenen Wahlen nur zustimmen werde, wenn diese vor Inkrafttreten der im vergangenen Jahr vollzogenen Änderung des Wahlgesetzes stattfänden.
Es wird somit erwartet, dass Staatspräsident Erdoğan am 8. oder 10. März die Neuwahl des Parlaments anordnet und damit auch die Präsidentschaftswahl auslöst. In diesem Fall würde auf der Grundlage des Wahlgesetzes für den Staatspräsidenten, das einen Zeitraum von 60 Tagen vorsieht, die Wahl am 14. Mai stattfinden. Hier kollidieren zwei Gesetze: Die Verfassung bestimmt, dass beide Wahlen am selben Tag stattfinden. Das Gesetz für die Parlamentswahl sieht jedoch eine Frist von 90 Tagen vor. Es wird jedoch davon ausgegangen, dass der Hohe Wahlrat das Gesetz über die Präsidentschaftswahl zur Grundlage nimmt, weil es jünger ist.
Nach der Anordnung von Neuwahlen erlässt der Hohe Wahlrat einen Kalender, in dem der Aushang der Wählerverzeichnisse, sowie die Fristen für die Nominierung der Kandidierenden festgelegt werden. Es wird davon ausgegangen, dass die Nominierungsfristen für das Parlament wie auch für die Kandidatur zum Staatspräsidenten Ende März auslaufen. Anfang April prüft der Hohe Wahlrat dann die Kandidaturen. Für unabhängige Kandidierende für das Präsidentenamt gibt es außerdem eine Zusatzfrist, innerhalb derer sie 100.000 Stützunterschriften aufbringen müssen.
Der Staatspräsident wird in einer Personenwahl direkt gewählt. Erreicht kein_e Anwärter_in im ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahl mehr als die Hälfte der Stimmen, so findet zwei Wochen später ein zweiter Wahlgang mit den beiden stärksten Kandidierenden aus der ersten Runde statt, bei dem eine einfache Mehrheit für einen Sieg ausreicht. Die Parlamentswahl findet als Verhältniswahl statt. Die Auswertung der Parlamentswahl erfolgt in der Regel auf Provinzebene nach dem D’Hondt-Höchstzahlenverfahren. Nur in Großstädten wie Istanbul und Ankara gibt es mehrere Stimmbezirke mit eigenen Kandidatenlisten. Bei der Parlamentswahl gibt es 87 Abstimmungsbezirke, auf die der Bevölkerungsgröße entsprechend je 2 bis 18 Mandate entfielen.
Bei der Wahlauswertung wird nach der Stimmauszählung zunächst geprüft, ob eine Partei bzw. ein Bündnis die Sperrklausel überwindet. Auf unabhängige Kandidierende wird diese nicht angewendet. Nach dem bisherigen Wahlgesetz wird dann das D’Hondt-Höchstzahlenverfahren auf die Parteienbündnisse bzw. Einzelparteien und unabhängigen Kandidierenden angewendet. Nach dem neuen Gesetz wird das Verfahren auf die Parteien, die die Sperrgrenze von sieben Prozent überschreiten, angewendet. Nun wird in einem zweiten Schritt das Verfahren auf die Wahlbündnisse selbst angewendet, um die Zahl der Abgeordnetensitze für die einzelnen Parteien im Wahlbündnis zu bestimmen.
Eine Schlüsselstellung bei den bevorstehenden Wahlen nimmt der Hohe Wahlrat ein. Der Hohe Wahlrat ist ein Gremium, das aus derzeit elf Richtern besteht, die vom Kassationsgerichtshof und dem Verwaltungsgerichtshof gewählt werden. Fünf seiner Mitglieder sind in diesem Jahr neu gewählt worden. Der Hohe Wahlrat ist die letzte Entscheidungsinstanz bei allen Wahlen und Referenden in der Türkei. Es gibt keinen Rechtsweg gegen seine Entscheidungen.
Das Verfahren, die Mitglieder des höchsten Wahlgremiums durch die obersten Gerichte wählen zu lassen, wirkt auf den ersten Blick einleuchtend. Gleichwohl zeigen die Wahlen von zwei Verfassungsrichtern beispielhaft, in welchem Maße diese Gerichte durch die Regierung beeinflusst werden. Beide Richter wurden an die obersten Gerichte ernannt, um dann, noch bevor sie ein Urteil gesprochen hatten, direkt an das Verfassungsgericht gewählt zu werden.
In der jüngeren Vergangenheit haben insbesondere zwei Entscheidungen des Hohen Wahlrates Diskussionen über dessen Unabhängigkeit ausgelöst. Im Mai 2019 ordnete er auf der Grundlage eines außerordentlichen Antrags der AKP die Wiederholung der Oberbürgermeisterwahl in Istanbul an. Zur Begründung wurde auf Unregelmäßigkeiten bei den Kommissionen an den Wahlurnen verwiesen. Warum dann jedoch nicht auch die Wahl der Bezirksbürgermeister und der Stadtparlamente wiederholt wurde, blieb offen. Beim Verfassungsreferendum im April 2017 entschied der Hohe Wahlrat, ungültige Stimmen für gültig zu bewerten, weil das Verschulden bei den Wahlurnenkommissionen und nicht bei der Wählerschaft gelegen habe. Mit dieser Entscheidung setzte sich der Hohe Wahlrat über den Wortlaut des Wahlgesetzes hinweg.
Bei den kommenden Wahlen wird eine der ersten kritischen Entscheidungen des Hohen Wahlrates die Frage betreffen, ob Staatspräsident Erdoğan zur Wahl zugelassen wird. Die Verfassung sieht vor, dass eine Person das Amt maximal zwei Amtszeiten innehaben kann. Nur wenn das Parlament eine vorzeitige Wahl beschließt, wird eine dritte Kandidatur von der Verfassung zugelassen. Das Regierungsbündnis argumentiert, dass die Beschränkung auf zwei Amtszeiten nicht angewendet werden kann, weil mit dem Übergang zum Präsidialsystem ein Systemwechsel stattgefunden habe. Jurist_innen wiederum weisen darauf hin, dass die Beschränkung auf zwei Amtszeiten eindeutig sei und auch beim Übergang zum Präsidialsystem nicht geändert wurde.
Eine zweite kritische Entscheidung des Hohen Wahlrates bezieht sich zudem auf die Anwendung der Änderung des Wahlgesetzes, die im April 2022 vom Regierungsbündnis verabschiedet wurde. Die Verfassung sieht vor, dass Änderungen an einem Wahlgesetz erst ein Jahr nach Inkrafttreten Anwendung finden. Nun dürfte entscheidend sein, ob der Hohe Wahlrat die Rechtskraft von einem Jahr auf den Beginn des Wahlprozesses, also der Anordnung von Neuwahlen, oder den Wahltermin selbst anwendet. Logisch wäre es, vom Beginn der Wahl auszugehen, weil das Wahlgesetz den gesamten Wahlvorgang bestimmt. In diesem Fall würde nach dem alten Wahlgesetz gewählt. Wird jedoch der Wahltermin als Ausgangspunkt genommen, gelten die Vorschriften des geänderten Wahlgesetzes.
Im Vordergrund der Gesetzesnovelle stehen zwei Änderungen: Zum einen wird die Sperrklausel für den Einzug in das Parlament von 10 Prozent auf 7 Prozent gesenkt. Zum anderen erfolgt die Ermittlung der Anzahl der gewonnenen Mandate nicht mehr auf der Grundlage der Wahlbündnisse, sondern aufgrund der tatsächlichen Stimmen für eine Partei.
Die Sperrklausel gilt sowohl für Wahlbündnisse als auch für einzeln antretende Parteien ohne Bündnis. Das heißt, dass auch Parteien mit geringen Stimmanteil innerhalb eines Wahlbündnisses ins Parlament einziehen können. Eine praktische Bedeutung für die derzeit im Parlament vertretenen Parteien hat die Änderung daher nicht.
Die Änderung beim Vergabeverfahren der Parlamentsmandate benachteiligt hingegen kleinere Parteien in Parteienbündnissen. Die vier kleineren Mitglieder des Sechs-Parteien-Bündnisses der Opposition haben nur auf den Kandidatenlisten der beiden großen Partnerinnen die Chance, im neuen Parlament vertreten zu sein. Dies hat für sie den Nachteil, dass ihre Kandidat_innen zunächst austreten müssen, denn das Parteiengesetz verbietet gemeinsame Kandidatenlisten mehrerer Parteien. Zwar können sie nach der Wahl wieder in ihre frühere Partei eintreten und sie dadurch im Parlament vertreten, verfügen im Wahlkampf jedoch über keine direkte Unterstützungsmöglichkeit ihrer eigentlichen Partei.
Modellrechnungen zeigen außerdem, dass die AKP bei einem Berechnungsverfahren nach Stimmaufkommen statt nach Bündnis einige Mandate hinzugewonnen hätte. In einem Beitrag des türkischen Dienstes der Voice of America wird Dozent Burak Cop mit praktischen Beispielen der Parlamentswahl 2018 zitiert. In der Provinz Niğde beispielsweise gewann die MHP kein Mandat, obgleich sie mehr Stimmen als die CHP erhielt, weil die Summe der Bündnisstimmen von CHP und İyi-Partei höher lag. Nach dem neuen Verfahren hätte die MHP hingegen ein Mandat gewonnen.
Eigentlich war von der AKP eine grundlegendere Änderung des Wahlsystems zur Diskussion gestellt worden. Dieser Idee zufolge sollten die Wahlbezirke radikal verkleinert und damit quasi zu einem Mehrheitswahlsystem übergegangen werden. Dieser Vorschlag wurde jedoch vom Regierungspartner MHP nicht unterstützt.
Umstritten bei der Änderung des Wahlgesetzes war neben dem Vergabeverfahren der Parlamentsmandate auch die Bestellung der Wahlräte der Provinzen. Bisher wurden automatisch die ranghöchsten Richter_innen der Provinz in den Wahlrat delegiert. Der neuen Bestimmung zufolge werden sie nun per Losverfahren unter den Richter_innen erster Klasse einer Provinz ausgelost. Zudem wurden alle bestehenden Wahlräte aufgelöst und nach dem neuen Verfahren neu gegründet. Die CHP hatte dagegen Verfassungsklage eingereicht und argumentiert, dass es sich bei den Wahlräten um Richtergremien handele, die vom Gesetzgeber nicht einfach aufgelöst werden könnten. Der Antrag wurde jedoch im Januar 2023 vom Verfassungsgericht zurückgewiesen.
Die CHP hatte zudem erfolglos dagegen geklagt, dass der Staatspräsident nach dem geänderten Wahlgesetz staatliche Mittel für den Wahlkampf nutzen darf, obwohl er zugleich auch Parteivorsitzender ist. Das geänderte Wahlgesetz verbietet bis auf diese Ausnahme Regierungsangehörigen, staatliche Mittel für ihren Wahlkampf zu nutzen.
Die letzte internationale Kommission zur Überwachung einer Wahl in der Türkei war die von Andrew Dawson geführte Europarats-Delegation, die die Kommunalwahl im März 2019 und die Wiederholung der Oberbürgermeisterwahl in Istanbul beobachtete. In seinem Bericht vom Juli 2019 führt Dawson aus, dass die Organisation der Wahl kompetent war und keine Beanstandungen bei der eigentlichen Abstimmung gefunden wurden. Er kritisierte allerdings, dass einige Mitglieder seiner Delegation bei dem Besuch von Wahllokalen behindert wurden oder dass die Wahlurnenkommissionen manchmal jede Auskunft verweigerten. Auch einige türkische Anwaltskammern berichteten, dass sie in ländlichen Gebieten zum Teil daran gehindert wurden, bis zu den Wahllokalen vorzudringen. Besorgt zeigte sich Dawson vor allem im Hinblick auf die Übermittlung der Wahlprotokolle und die Erfassung der Daten. Dies sind auch die Aspekte, die in den letzten Jahren in der türkischen Öffentlichkeit intensiv diskutiert wurden und dazu geführt haben, dass die Parteien eigene Strukturen zur Überwachung der Zusammenführung der Wahlergebnisse aufgebaut haben.
Obgleich eine aktuell geführte Übersicht über veröffentlichte Wahlumfragen in den letzten Monaten einen Anstieg des Regierungsbündnisses von AKP und MHP zeigen, liegt das Oppositionsbündnis der sechs Parteien im Januar 2023 weiterhin vor dem Regierungsbündnis.
Für die Präsidentschaftswahl gibt es zwar verschiedene Umfragen, die jedoch nur über eine geringe Aussagekraft verfügen, solange die Kandidierenden nicht feststehen. Bisher hat nur Recep Tayyip Erdoğan seine Kandidatur bekannt gegeben. Das Bündnis der sechs Oppositionsparteien will seine_n Präsidentschaftskandidat_in am 13. Februar präsentieren. Das Links-Bündnis unter Führung der HDP hat ebenfalls erklärt, einen eigenen Kandidaten oder eine Kandidatin nominieren zu wollen. Die Unterstützung des Kandidaten oder der Kandidatin des 6er-Bündnisses hatte die HDP davon abhängig gemacht, dass ein offener politischer Dialog mit ihr geführt werde. Vermutlich dürfte für eine Unterstützung auch entscheidend sein, wen das 6er-Bündnis als Kandidat_in aufstellt.
Nach der Entscheidung der drei Bündnisse über die Präsidentschaftskandidaturen ist eine zweite kritische Phase die Erstellung der Listen für die Parlamentskandidat_innen. Dies dürfte umso mehr für das 6er-Bündnis gelten, da vier der sechs Parteien über kaum eine Chance verfügen, die Sperrklausel zum Parlamentseinzug zu überwinden und darum auf den Listen von CHP und İyi-Partei kandidieren werden. Das Ergebnis der Verhandlungen dürfte mit darüber entscheiden, wie geschlossen die sechs Parteien im kurzen Wahlkampf im April und Mai auftreten werden.
Am 30. Januar 2023 stellten die im 6er-Bündnis zusammengeschlossenen Oppositionsparteien ihr gemeinsames politisches Programm vor. Erarbeitet wurde es im Konsensprinzip, was für eine politische Kultur, in der normalerweise nicht Konsens, sondern Macht dominiert, bereits für sich genommen einen Wert darstellt. Dies gilt umso mehr, als in dem Bündnis ein breites Spektrum von sozialdemokratischen, kemalistischen, nationalistischen, konservativen, liberalen und islamischen Ansätzen und Ideen vertreten ist.
Das politische Programm, das auch als Regierungsprogramm des 6er-Bündnisses verstanden wird, verfügt über mehr als 2.000 politische Aussagen und weist Überschneidungen mit dem zuvor vorgestellten Plan zum Übergang zu einem gestärkten parlamentarischen System auf. Schon jetzt ist das mehr als 200 Seiten starke Programm nicht unbedingt eine leichte Lektüre. Bei manchen Aspekten stellen sich Zielkonflikte, bei anderen auch die Frage der Umsetzung. Auch ist nicht immer klar, wie die gesetzten Ziele erreicht werden sollen. Gleichwohl verfügt es über eine inhaltliche Geschlossenheit und macht die politischen Intentionen der Parteien deutlich: mehr Pluralismus, Aufbrechen von Privilegien und Korruption sowie die Rückkehr zu einer orthodoxen Wirtschafts- und Geldpolitik.
Beim politischen System setzen die Aussagen bei einer Wiederherstellung der Gewaltenteilung und der Stärkung von Oppositionsrechten an. Insbesondere die Haushaltshoheit des Parlaments wird gestärkt und der Opposition eine wirksamerer Rolle bei der Kontrolle der Ausgaben zugesprochen. Von einiger Brisanz dürften auch die Ziele bei der Korruptionsbekämpfung sein, die bei einem Wahlsieg der Opposition vermutlich ein Hebel zur Aufarbeitung des Präsidialsystems und der letzten Dekade der AKP-Regierungen sein dürften. Wirtschaftspolitisch wird zwar eine stärker planende Rolle des Staates vorgesehen, gleichwohl aber nicht der Rahmen einer freien Marktwirtschaft verlassen. Die Unabhängigkeit der Zentralbank soll gestärkt und die Geldwertstabilität zu ihrer zentralen Aufgabe werden. Bei der Justiz soll die Rechtssicherheit für Richter_innen gestärkt werden. Gegen Beschlüsse des Hohen Wahlrates soll ein Rechtsweg geöffnet werden. Außenpolitisch soll die EU-Beitrittsperspektive wiederbelebt werden. Zu den USA und Russland soll eine Beziehung auf „Augenhöhe“ gefunden werden. Weiter wird eine umfassendere Sozialpolitik versprochen, die zu einer gerechteren Verteilung des gesellschaftlichen Vermögens führen soll.
Für Enttäuschung sorgte, dass sich die Rückkehr zur Istanbul-Konvention zum Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt nicht explizit im Text findet. Hier war wohl die Zustimmung der islamischen Saadet-Partei nicht zu bekommen. Auch die Kurden-Frage wird nicht angesprochen, was vermutlich vor allem auf Vorbehalte der İyi-Partei zurückgeht. Doch wichtige Punkte wie eine Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung und die Verhinderung der Absetzung gewählter Bürgermeister_innen greifen wiederum Forderungen auf, wie sie auch von der HDP gestellt werden.
Eine englischsprachige Zusammenfassung der wesentlichsten Forderungen findet sich hier.
Türkei Nachrichten - Sonderausgabe Wahlen
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