Nach den Wahlen im Mai 2023 steuert die Türkei schon auf die nächsten Wahlen zu: im März 2024 stehen landesweit Kommunalwahlen an. Noch ringen die drei größten Oppositionsparteien jedoch um ihre Neuaufstellung und die Aufarbeitung der Wahlniederlage. Die Regierung hat derweil ihre Arbeit mit einem neuen Kabinett aufgenommen und einen Kurswechsel in der Finanzpolitik eingeläutet. Innenpolitisch steht das Land vor einer Verfassungskrise, die sich am Fall des inhaftierten Abgeordneten Can Atalay entzündet hat und Grundfragen des türkischen Rechtsstaats berührt.
Die Diskussion um Verfassungsänderungen und Gewaltenteilung sind kein neues Phänomen in der Türkei und beschäftigen das Land nun auch im 100. Jahr der Republik. Eine letzte Zäsur für die Gewaltenteilung war die umfassende Verfassungsreform von 2018, die mit dem Präsidialsystem ein neues politisches System einführte, in dem der Staatspräsident zur absoluten Entscheidungsinstanz der Exekutive wurde.
Rechtsstaatlichkeit
Seit der Verfassungsänderung verschränken sich die staatlichen Machtbereiche immer weiter: Als Vorsitzender der größten Parlamentspartei hat sich Staatspräsident Erdoğan mit Unterstützung seines rechts-nationalistischen Bündnispartners MHP bei den letzten Wahlen erneut die Mehrheit im Parlament gesichert. Über den Rat der Richter und Staatsanwälte, der die oberste Instanz für Disziplinar- und Personalangelegenheiten bildet und mit einfacher Mehrheit durch das Parlament bestimmt wird, hat die Regierung Zugriff auf die Justiz.
Auch um die Unabhängigkeit der „vierten Gewalt“ ist es nicht gut bestellt: Mit Druck und staatlicher Finanzierung wurde die Medienlandschaft umgestaltet und damit eine weitgehende Kontrolle der Berichterstattung erwirkt. Die Demonstrations- und Meinungsfreiheit ist stark eingeschränkt, allein mit dem Vorwurf der Präsidentenbeleidigung sind tausende von Strafverfahren eingeleitet und Haftstrafen verhängt worden.
Gleichwohl gibt es nach wie vor Bereiche, die sich einer direkten oder indirekten Kontrolle entziehen. So ist die unabhängige Berichterstattung ins Internet abgewandert. Und das Verfassungsgericht fällt ab und zu Urteile, die der Regierung nicht gefallen. Mit dem Konflikt zwischen dem Verfassungsgericht und dem Kassationsgerichtshof, der an dem Fall des inhaftierten Parlamentsabgeordneten Can Atalay (Türkische Arbeiterpartei) entbrannte, gerät jedoch auch diese Instanz unter Druck. Durch die Nichtanerkennung eines Urteils des Verfassungsgerichts durch das Kassationsgericht entstand eine Verfassungskrise.
Ausgangspunkt: Der Gezi-Prozess
Im Sommer 2013 lösten Polizeieinsätze gegen Demonstrierende, die sich gegen die Umgestaltung des Gezi-Parks in Istanbul eingesetzt hatten, eine landesweite Protestwelle aus, die sich auf fast alle Provinzen der Türkei ausweitete. Trotz massiver Polizeigewalt mit mehreren Todesopfern verliefen diese Proteste, von einigen Sachbeschädigungen abgesehen, friedlich. Neben politischen beschäftigen auch juristische Folgen die Türkei bis heute.
So wurde am 1. November 2017 der Kulturmäzen Osman Kavala verhaftet und beschuldigt, Organisator der Gezi-Proteste gewesen zu sein und auf diese Weise einen Staatsstreich geplant zu haben. Außerdem wurde ihm eine Verwicklung in den Putschversuch vom 15. Juli 2016 vorgeworfen. Zwar wurde er im Februar 2020 freigesprochen, doch wurde dieser Freispruch in der Berufung vor dem Bezirksgericht aufgehoben.
Bereits im Dezember 2019 urteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), dass die Anklagen gegen Osman Kavala politisch motiviert seien und das Ziel verfolgten, Menschenrechtsverteidiger:innen einzuschüchtern. Zugleich forderte das Gericht die Freilassung Kavalas, der sich seit 2017 ununterbrochen in Haft befindet - ein Urteil, das nach türkischem Recht bindend ist. Das türkische Justizministerium argumentiert jedoch, dass seit dem EGMR-Urteil das Verfahren wiederholt worden sei. Dieser Einwand wurde vom Europarat nicht anerkannt.
Am 25. April 2022 verurteilte das zuständige Gericht in Istanbul Osman Kavala schließlich wegen versuchten Staatsstreichs zu verschärfter lebenslanger Haft. Außerdem wurden im selben Prozess Can Atalay, Mücella Yapıcı, Çiğdem Mater, Hakan Altınay, Mine Özerden, Yiğit Ali Ekmekçi und Tayfun Kahraman zu Haftstrafen von 18 Jahren verurteilt. Das Urteil wurde – bis auf drei Fälle - am 28. September 2023 vom Kassationsgerichtshof (Yargıtay) bestätigt.
In der Zwischenzeit wurde der verurteilte und inhaftierte Can Atalay bei den Wahlen im Mai 2023 als Kandidat der Türkischen Arbeiterpartei (TIP) ins Parlament gewählt. Sein Antrag auf Freilassung aufgrund der erworbenen parlamentarischen Immunität wurde jedoch vom Kassationsgerichtshof zurückgewiesen. Das Gericht beruft sich dabei auf Artikel 14 der Verfassung, der besagt, dass Grundrechte nicht genutzt werden dürfen, um die Staatsordnung aufzuheben. Am 25. Oktober urteilte das Verfassungsgericht im individuellen Klageverfahren schließlich, dass die Wählbarkeit und das Freiheitsrecht von Can Atalay verletzt wurden und forderte das zuständige Strafgericht in Istanbul auf, dessen Freilassung anzuordnen.
Eine inszenierte Verfassungskrise
Das Strafgericht folgte dem Urteil des Verfassungsgerichts jedoch nicht, sondern bat den Kassationsgerichtshof um eine neue Rechtseinschätzung. Angesichts eines bindenden Urteils des Verfassungsgerichts, gegen das keine Berufung möglich ist, ein ungewöhnlicher Schritt, der zur Verlängerung der rechtswidrigen Inhaftierung führt. Interessant ist, dass in dem Schreiben aus Istanbul als Entscheidungsdatum des Verfassungsgerichts nicht der 25. Oktober, sondern der 13. Oktober angegeben wird. Der Antrag Atalays hatte am 13. Oktober auf der Tagesordnung des Verfassungsgerichts gestanden, war jedoch vertagt worden. Dies legt nahe, dass bereits vor dem 25. Oktober vorsorglich ein Vorgehen im Falle eines Urteils des Verfassungsgerichts auf Grundrechtsverletzung geplant wurde.
Die Staatsanwaltschaft am Kassationsgerichtshof trug ihren Standpunkt, dass die Inhaftierung Atalays fortbestehen müsse und er seine parlamentarische Immunität verloren habe, erneut vor, ohne auf das Urteil des Verfassungsgerichts einzugehen. Daraufhin entschied die zuständige Kammer des Kassationsgerichts, auf dem bisherigen Urteil (keine Freilassung trotz parlamentarischer Immunität) zu bestehen und stellte zugleich einen Strafantrag gegen die neun Verfassungsrichter, die zugunsten Atalays (für eine Grundrechtsverletzung und seine Freilassung) entschieden hatten.
Unmittelbar Sorge vor einer drohenden Verhaftung müssen die Verfassungsrichter allerdings nicht haben. Alle 15 Richter des Verfassungsgerichts – zurzeit ist tatsächlich kein einziger Posten mit einer Frau besetzt - entscheiden gemeinsam über die Zulassung einer Ermittlung gegen Mitglieder des Verfassungsgerichtes. Beteiligte Richter dürfen allerdings nicht mitentscheiden. Zur Beschlussfähigkeit wiederum sind mindestens zehn Richter nötig. Nach geltender Rechtslage ist das Verfassungsgericht in dieser Frage daher nicht entscheidungsfähig.
Die Strafanzeige und der Beginn einer Medienkampagne gegen die betroffenen Richter üben jedoch zusätzlichen Druck auf das Verfassungsgericht aus. Ein Antrag auf erneute Feststellung der Grundrechtsverletzungen Can Atalays ist in Kürze zu erwarten. In diesem Fall muss das Verfassungsgericht erneut entscheiden. Ob die neun Richter, die zugunsten Atalays entschieden hatten, dann bei ihrem Urteil bleiben, ist offen. Um einerseits das Gesicht zu wahren und andererseits eine offene Konfrontation zu vermeiden, könnte das Verfassungsgericht eine erneute Entscheidung zum Fall Can Atalay hinauszögern. Niemand kann das Verfassungsgericht zwingen, einen Fall auf die Tagesordnung zu nehmen - dies kann zuweilen Jahre dauern.
Diskussion um eine neue Verfassung
Der offene Konflikt zwischen Verfassungsgericht und Kassationsgerichtshof schlägt Wellen, die weit über den Fall Can Atalays hinausgehen. Es stellt sich die grundsätzliche Frage nach der Position und Unabhängigkeit des Verfassungsgerichtes in der Türkei. Zudem wird der aktuelle Konflikt immer wieder mit der Diskussion um eine neue Verfassung in Verbindung gebracht, die seit einigen Monaten von Staatspräsident Erdoğan vorangetrieben wird. Viele Kommentator:innen vermuten, dass mit einer Verfassungsänderung auch die Amtszeit des Präsidenten von vorne beginnen soll und somit eine erneute Kandidatur des Amtsinhabers Erdoğan möglich wäre.
Die Oppositionspartei CHP hatte bereits mit einer Gerechtigkeitsmahnwache im Parlament auf den Fall Atalays aufmerksam gemacht. Als der neue CHP-Vorsitzende Özgür Özel von einem „Putsch gegen die verfassungsmäßige Ordnung“ sprach, wies Justizminister Tunç dies entschieden zurück. Staatspräsident Erdoğan erklärte, dass man den Standpunkt des Kassationsgerichtshofes nicht einfach übergehen könne. Das Verfassungsgericht habe mehrfach durch Urteile für Verwirrung im Rechtssystem gesorgt. Dies sei ein Problem, das bei der Arbeit an einer neuen Verfassung unbedingt berücksichtigt werden müsse. Der AKP-Bündnispartner MHP befand, man könne das Verfassungsgericht gleich ganz auflösen, wenn sich dieses Problem nicht lösen ließe. Justizminister Tunç wiederum wies darauf hin, dass auch eine Änderung des Verfahrensgesetzes für die Individualklage vor dem Verfassungsgericht denkbar sei.
Der Streit fällt in eine Phase, in der der Europarat über Sanktionen gegen die Türkei aufgrund der Missachtung des Urteils des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte im Fall Osman Kavala entscheiden muss. Die parlamentarische Versammlung im Europarat hat angedroht, dass den türkischen Mitgliedern ab dem 1. Januar 2024 die Akkreditierung entzogen werden könnte. Auch hatte es angeregt, individuelle Sanktionen gegen alle zu verhängen, die am fortgesetzten Rechtsbruch beteiligt sind. Die prominentesten Ziele könnten die beteiligten Mitglieder am Kassationsgerichtshof sein.
Es gibt jedoch eine weitere Möglichkeit, die einen schweren Gesichtsverlust für die türkische Justiz bedeuten würde. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte könnte entscheiden, dass er das individuelle Verfahren vor dem türkischen Verfassungsgericht nicht mehr als innerstaatlichen Rechtsweg anerkennt. In diesem Fall wäre das Anrufen des europäischen Gerichts möglich, auch wenn das türkische Verfassungsgericht noch nicht geurteilt hat. Zugleich würde dem türkischen Verfassungsgericht bescheinigt, dass es nicht mehr als unabhängiges Gericht bewertet wird.
So oder so schreitet die Demontage des Rechtsstaats in der Türkei schnell voran. Dass die Regierung kurzfristig eine Mehrheit findet, um eine Verfassungsänderung zu erreichen, mit der sie das Verfassungsgericht abschaffen oder die Verbindlichkeit seiner Urteile aufheben könnte, ist zwar nicht zu erwarten. Aber es kann persönlicher Druck ausgeübt und beim Ausscheiden von Richtern mit der Neubenennung weiterer Einfluss ausgebaut werden. Die Ironie hier ist, dass fast alle aktuellen Verfassungsrichter eigentlich von Staatspräsident Erdoğan bestimmt worden sind.
Neben der Verfassungskrise beschäftigen auch die Folgen der Parlaments- und Präsidentschaftswahlen die türkische Innenpolitik. Die Opposition ringt um eine Neuausrichtung und versucht, Antworten auf die Wahlniederlage zu finden. Die Regierung beginnt ihre Arbeit mit einem fast komplett neuen Kabinett und großen innenpolitischen Herausforderungen: Mit einem harten Vorgehen gegen Migration und organisierter Kriminalität versucht sie zu punkten.
Innenminister Yerlikaya: Migration und organisiertes Verbrechen im Fokus
Als Staatspräsident Erdoğan im März 2023 fast alle seine Minister:innen zu Parlamentskandidat:innen machte, leitete er damit zugleich eine umfassende Umbildung der Regierung ein. In einigen Ressorts – neben der Finanz- vor allem in der Innenpolitik – stehen die neuen Minister:innen auch für einen politischen Kurswechsel.
Innenminister Ali Yerlikaya war vor seiner Ernennung Provinzgouverneur von Istanbul. Er begann seine Karriere im Innenministerium 1990 und gilt als Vertrauter des Staatspräsidenten. Sein Amtsvorgänger Süleyman Soylu war im vergangenen Jahr durch Enthüllungen der im Ausland lebenden Unterweltsgröße Sedat Peker mehrfach der Beziehungen zum organisierten Verbrechen beschuldigt worden. Yerlikaya ließ nach seinem Amtsantritt mehrere Operationen gegen das organisierte Verbrechen durchführen. Die spektakulärste war die Festnahme von Ayhan Bora Kaplan, dem insbesondere Rauschgifthandel, Wucherei und Kinderpornographie vorgeworfen wird. Kaplan hatte sich 2016 dem damaligen Innenminister Soylu angeschlossen, als dieser beim gescheiterten Putschversuch mit einer Menschenmenge zur Zentrale des staatlichen Fernsehsenders TRT zog. Eine weitere große Operation wurde gegen die international operierende Gruppe Comanchero durchgeführt.
Zudem nahm Yerlikaya unmittelbar nach seinem Amtsantritt umfangreiche Umbesetzungen in der Polizeispitze vor. Mit der Umbesetzung in der Polizeiführung ist zwar kein Politikwechsel verbunden, wohl aber ein Wandel, der das Ansehen der Polizei wiederherstellen soll. Ideologisch stand der frühere Innenminister Soylu der MHP nahe und wurde von ihr unterstützt. Auch den neuen Innenminister kann man keineswegs als liberal einschätzen, doch hat er begonnen, einige fragwürdige Entscheidungen seines Vorgängers zu revidieren. Sein Vorgehen gegen die organisierte Kriminalität ist angesichts zahlreicher Medienberichte über die Verquickung von Politik, Staatsapparat und organisierter Kriminalität auch als Versuch zu verstehen, diesem Bild entgegenzuwirken.
Ein zweiter Akzent von Yerlikayas Politik ist die irreguläre Migration. Zusammen mit der Verschlechterung der Lebensbedingungen aufgrund der hohen Inflation hat die Akzeptanz für Flüchtlinge und irreguläre Migrant:innen stark nachgelassen. Yerlikaya hat nun damit begonnen, durch systematische Straßenkontrollen den unerlaubten Aufenthalt in der Türkei zu erschweren. In der Provinz Van an der iranischen Grenze wurden zudem mehrere große Operationen gegen Schleuser durchgeführt. Und im Oktober erklärte Yerlikaya, er habe mit seinen griechischen und bulgarischen Kolleg:innen eine Vereinbarung getroffen: Für die Dauer von einem Monat werde die Türkei alles daran setzen, illegale Grenzübertritte in beide Länder zu verhindern. Im Gegenzug sollten künftig Pushbacks unterbleiben, die nach internationalem Recht ohnehin nicht erlaubt sind. Durch den Einsatz auch von Armee und Küstenwache ist die Zahl der Aufgriffe irregulärer Migrant:innen stark gestiegen. Als Ziel formulierte Yerlikaya, dass erreicht werden solle, die Türkei als Transitland irregulärer Migration unattraktiv zu machen.
Angesichts der zwiespältigen Haltung der AKP zu Flüchtlingen und irregulärer Migration kann der neue Schwerpunkt von Innenminister Yerlikaya auch im Hinblick auf die bevorstehende Kommunalwahl bewertet werden. Während AKP-Politiker:innen immer wieder erklärten, dass Migrant:innen benötigt würden, um Teile von Industrie und Landwirtschaft lebensfähig zu erhalten, signalisieren Straßenkontrollen und Operationen gegen Schleuser, dass die Regierung etwas gegen irreguläre Migration unternimmt.
Opposition sucht Neuausrichtung
Während die Regierung etliche Politikwechsel einläutete, war die Opposition weitgehend mit sich selbst und der Aufarbeitung der verlorenen Wahlen beschäftigt. In der CHP wurde in einem harten internen Machtkampf um den Parteivorsitz gerungen, die İyi-Partei verwarf die Bündnispolitik mit der CHP und kündigte an, landesweit mit eigenen Kandidatinnen und Kandidaten in die Kommunalwahl ziehen zu wollen. Dass dies in einigen Großstädten wegen des Mehrheitswahlsystems bei der Bürgermeisterwahl vor allem im Interesse der AKP sein dürfte, sorgte dafür, dass solche Aussagen immer wieder relativiert wurden, wodurch der Eindruck einer Schaukelpolitik entstand. Ein letzter Versuch des CHP-Vorsitzenden Özel, bei den Wahlen eine Zusammenarbeit in wichtigen Großstadtkommunen zu erreichen, wurde jedoch von der İyi-Partei erneut mit großer Mehrheit abgelehnt.
Aber auch in ihrer ideologischen Ausrichtung hat die İyi-Partei ein Problem. Hervorgegangen aus einer Abspaltung aus der MHP war ihr Ziel, die rechte politische Mitte zu besetzen. Nicht zuletzt aus diesem Grund wurden rechtsextreme Politiker wie Ümit Özdağ, der mit seiner Zafer-Partei bei der Parlamentswahl überraschend erfolgreich war, aus der Partei herausgedrängt. Während für einen Teil der İyi-Basis ein Bündnis mit der CHP nicht tragbar ist, rivalisiert sie auf der anderen Seite gerade mit dieser Partei um nationalistische Stimmen. Meral Akşener als Vorsitzende der İyi-Partei versucht wiederum, dieses Dilemma durch eine autoritärere Führung zu überspielen, was dazu führt, dass führende Politikerinnen und Politiker keinen Wirkungsraum mehr in der Partei sehen. Der Austritt von Parlamentsabgeordneten und Vorstandsmitgliedern zeigt, dass die Partei vor einer Zerreißprobe steht.
Die kleineren Parteien des früheren 6er-Oppositionsbündnisses gehen nach den Wahlen ihren eigenen Weg. Die Abgeordneten der DEVA-, Gelecek- und Saadet-Partei, die über die Liste der Bündnispartnerin CHP ins Parlament gewählt wurden, haben die CHP-Fraktion nun erwartungsgemäß wieder verlassen. Saadet- und die Gelecek-Partei haben daraufhin gemeinsam mit insgesamt 20 Abgeordneten eine eigene Fraktion im Parlament gebildet. Die DEVA-Partei, ebenfalls Teil des 6er-Bündnisses, wollte sich nicht an einer gemeinsamen Fraktion beteiligen, um selbst an Profil zu gewinnen. Ihre 15 Abgeordneten verließen zwar ebenfalls die CHP, erreichen für eine Fraktion aber nicht die nötige Mindestzahl von 20 Abgeordneten und bilden daher eine Gruppe im Parlament.
Neuer Vorsitzender bei der CHP
Der Herbst war die Zeit der Parteikongresse: Sowohl die regierende AKP als auch die Oppositionsparteien CHP und YSP hatten ihre Parteikongresse einberufen. Nach der Wahlniederlage wurden vor allem die Kongresse der Oppositionsparteien intensiv verfolgt und eine Neuausrichtung der Opposition diskutiert.
Dem Kongress der CHP ging ein monatelanger, interner Machtkampf voraus, der unmittelbar nach der Wahlniederlage Kılıçdaroğlus bei der Präsidentschaftswahl am 28. Mai einsetzte. Kılıçdaroğlu bestand darauf, den notwendigen Veränderungsprozess der Partei selbst zu moderieren und erst dann einer Nachfolge zu übergeben. Um den Istanbuler Bürgermeister Ekrem İmamoğlu formierte sich daraufhin ein Lager für den Wandel. Dieses stellte sich hinter Özgür Özel, den Vorsitzenden der CHP-Fraktion im türkischen Parlament, als neuen Kandidaten für den Parteivorsitz.
Nach hitzigen Diskussionen auf dem CHP-Parteitag am 4. November 2023 wurde Özgür Özel schließlich spät in der Nacht im zweiten Wahlgang mit 812 der 1.367 Delegiertenstimmen zum neuen Vorsitzenden der CHP gewählt. Bei der anschließenden Wahl zum Parteirat, dem höchsten Entscheidungsgremium der Partei zwischen den Parteitagen, wurden 43 Personen seiner Liste in das 60köpfige Gremium gewählt. Am 13. November trat zum ersten Mal der neue Vorstand zusammen, der sich aus Mitgliedern des Parteirates zusammensetzt und durch den Vorsitzenden bestimmt wird. Der neue Vorstand verfügt über mehr Frauen und ist deutlich jünger als der vorherige. Neben auf die Partei ausgerichteten Funktionen ist er als Schattenkabinett organisiert, d.h. den Vorstandsmitgliedern sind Ministerien als Fachbereiche zugeordnet.
Mit dem Wahlsieg von Özel beim Parteitag sollen nun erste Schritte für eine Neuausrichtung erfolgen. Eigentlich sollte bereits drei Wochen nach dem Wahlparteitag am 4. November ein Satzungsparteitag einberufen werden, der jedoch aufgrund der Vorbereitungen auf die Kommunalwahl auf Anfang September 2024 verlegt wurde. Im Mittelpunkt sollen mehr Beteiligung der Parteibasis und mehr Transparenz stehen sowie Vorwahlen bei der Nominierung von Kandidatinnen und Kandidaten für Kommunen und Parlament verpflichtend werden. Bereits bei der aktuellen Vorbereitung der Kommunalwahlen sollen Vorwahlen durchgeführt werden.
In einem Gespräch mit der Nachrichtenplattform T24 erklärte Özgür Özel, dass er sich nach wie vor in verschiedenen Städten für Wahlbündnisse mit anderen Parteien einsetzen werde. Es sei den Wählerinnen und Wählern nicht zu erklären, wenn an Orten, die allein nicht gewonnen werden können, keine Zusammenarbeit eingegangen würde. Auch werde er einen offenen Dialog mit der HEDEP führen und die Ergebnisse dem Parteirat mitteilen. Bereits bei seiner Wahlrede auf dem Parteitag hatte er mit Grüßen an den inhaftierten früheren HDP-Co-Vorsitzenden Demirtaş und die Inhaftierten des Gezi-Park-Prozesses deutlich gemacht, dass er sich nicht von der Tabuisierung durch das Regierungsbündnis in Bereichen der Kurdenfrage und der Gezi-Proteste einschüchtern lassen will. Viel Zeit für die innerparteiliche Neuaufstellung bleibt nicht. Spätestens im Dezember wird es um die Nominierung der Bürgermeisterkandidat:innen für die Kommunalwahlen gehen.
Aus HDP wird HEDEP
Aufgrund des Verbotsverfahrens hatte die HDP beschlossen, sich nicht an der Parlamentswahl zu beteiligen, sondern ihre Kandidat:innen über die Links Grüne Zukunftspartei (YSP) zu nominieren. Beim Parteitag der HDP im August wurde beschlossen, die aktive Politik auf die YSP zu verlegen. Diese wiederum führte am 15. Oktober ihren Parteitag durch, bei dem nicht nur eine neue Parteiführung gewählt wurde, sondern auch Satzung und Namen der Partei geändert wurden. Die neue Abkürzung HEDEP ist jedoch aller Voraussicht nach nur vorübergehend. Der Kassationsgerichtshof entschied, sie nicht zuzulassen, weil sie eine zu große Ähnlichkeit mit der verbotenen Vorgängerpartei HADEP aufwies. Neue Vorsitzende der Partei für die Gleichheit und Demokratie der Völker (HEDEP) sind Tülay Hatimoğulları Oruç und Tuncer Bakırhan.
Dem Parteitag vorausgegangen war ein systematischer Diskussionsprozess mit hunderten dezentralen Versammlungen, bei denen es um das enttäuschende Wahlergebnis vom Mai ging. Im Mittelpunkt der Selbstkritik standen dabei die indirekte Unterstützung von Kemal Kılıçdaroğlu als Präsidentschaftskandidaten, aber auch die parteiinternen Entscheidungsprozesse. Auf dieser Grundlage wurde bei dem Parteitag auch beschlossen, sich stärker als in den letzten Jahren auf die Kurdenfrage zu konzentrieren.
Eine Kooperation mit der CHP bei der Kommunalwahl schließt die HEDEP nicht aus, fordert jedoch, dass solche Absprachen nicht hinter verschlossenen Türen, sondern offen und transparent getroffen werden. Gerüchte über verdeckte Gespräche mit der AKP wurden mehrfach dementiert. Wichtigstes Ziel der HEDEP für die Kommunalwahl ist es, alle Kommunen, deren Bürgermeister:innen abgesetzt und die unter staatliche Zwangsverwaltung gestellt wurden, wiederzugewinnen. Aber auch im Westen der Türkei rechnet sich die HEDEP Chancen aus, neue Bürgermeisterposten zu gewinnen.
In beiden Parteien, HEDEP und CHP, wird die Diskussion geführt, ob sie sich stärker auf ihre Stammwählerschaft konzentrieren sollten. Bei der HEDEP soll die Kurdenfrage stärker in den Vordergrund gerückt werden. Bei der CHP wird über die Zukunft der von Kemal Kılıçdaroğlu eingeleiteten Politik der Öffnung zur konservativen und islamischen Mitte diskutiert. Wichtiger für ihre Zukunft könnte jedoch sein, ob es beide Parteien gelingt, neue Formen für Transparenz und Beteiligung zu finden.
Für viele vor allem junge Menschen steigt die Perspektivlosigkeit angesichts der politischen und wirtschaftlichen Situation zunehmend und viele zieht es für Arbeit und Studium ins Ausland. Doch auch die Situation von Menschenrechten und Pressefreiheit führt dazu, dass immer mehr Menschen das Land verlassen: Laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) haben bis Ende Oktober seit Jahresbeginn 2023 rund 45.000 türkische Staatsangehörige einen Erstantrag auf Asyl gestellt. Das sind fast doppelt so viele wie im vergangenen Jahr und mehr als sechsmal so viele wie noch 2021. Damit stellten Menschen aus der Türkei die zweitgrößte Gruppe für Asylanträge – hinter Syrer:innen und noch vor Geflüchteten aus Afghanistan. Die Aussichten auf Erfolg sind dabei eher gering: mehr als die Hälfte der bearbeiteten Anträge türkischer Staatsangehöriger in 2023 wurden abgelehnt.
Einschüchterung von Journalist:innen
Ein Jahr nach der Verabschiedung des Desinformationsgesetzes wurde erstmals eine Ermittlung mit dem Vorwurf der Desinformation gegen den Journalisten Tolga Şardan von der Nachrichtenplattform T24 eingeleitet. Er wurde inhaftiert und seine Wohnung durchsucht, kam jedoch nach sechs Tagen Haft wieder frei. Şardan hatte über einen Bericht des Geheimdienstes MIT über Korruptionsvorwürfe in der Justiz berichtet. Das Präsidialamt jedoch bestreitet die Existenz eines solchen Berichtes.
Der Straftatbestand der Desinformation ist an drei Bedingungen geknüpft. Zunächst muss es sich bei der Tat um eine Falschinformation handeln. Außerdem muss diese geeignet sein, die öffentliche Ordnung zu gefährden. Und schließlich muss dies nicht nur vorsätzlich erfolgen, sondern mit der Absicht, Unruhe zu stiften. Man sollte meinen, dass alle drei Bedingungen kaum zu erfüllen sind. Eine Aussage von Justizminister Tunç zur Festnahme von Tolga Şardan macht jedoch deutlich, wie schnell sich diese Bedingungen reduzieren: Er erklärte, dass die Verbreitung von Falschinformationen nicht ungestraft bleiben könne. Wobei als einzige Quelle, um von einer Falschinformation zu sprechen, in diesem Falle das Dementi des Präsidialamtes herangezogen wird. Wenn jedoch alles, was vom Präsidialamt als „falsch“ dementiert wird, nicht mehr berichtet werden darf, bleibt nur noch wenig zu sagen.
Unmittelbar nach der Festnahme von Tolga Şardan erfolgten weitere Festnahmen von Journalist:innen, die sich zum Teil ebenfalls auf den Straftatbestand der Desinformation stützten. Es handelt sich nicht um Einzelfälle: Die Organisation Media Freedom Rapid Response weist in ihrem Monitor auf mehr als 500 Verletzungen der Pressefreiheit in der Türkei hin.
Internationales Filmfestival Antalya abgesagt
Der Film „Kamu Hükmü“ (Gesetzeskraft) von Nejla Demirci wurde berühmt, bevor er zum ersten Mal gezeigt wurde. Der Dokumentarfilm geht der Geschichte von zwei Mitgliedern des linken Gewerkschaftsdachverbands KESK nach, die per Dekret mit Gesetzeskraft im Zuge des Vorgehens gegen die Gülen-Gemeinschaft entlassen wurden. Bereits bei den Dreharbeiten gab es Probleme, ein Drehverbot musste mit einem Verwaltungsgerichtsurteil überwunden werden. Die Premiere sollte beim internationalen Filmfestival in Antalya erfolgen, dem wohl bekanntesten Filmfestival der Türkei. Doch das Ministerium für Kultur und Tourismus verlangte, den Film aus dem Festivalprogramm zu streichen, was auch geschah. Nachdem sich andere Teilnehmer:innen sowie die Jury zusammenschlossen und sich mit der Filmemacherin solidarisierten, wurde der Film schließlich wieder ins Programm aufgenommen. Das Ministerium zog daraufhin die Unterstützung für das Festival zurück, weitere Sponsoren schlossen sich an. Schließlich musste das Festival kurz vor seiner Eröffnung abgesagt werden.
Vorstand der türkischen Ärztekammern abgesetzt
Die türkischen Berufskammern, also die Kammern der Rechtsanwält:innen, Ärzt;innen und Ingenieur:innen, sind nicht erst in der mehr als 20jährigen Regierungszeit der AKP Zielscheibe von Eingriffen und Maßregelungen geworden. Die Union der Ärztekammern wurde nach Stellungnahmen zu Hungerstreiks oder auch zu den Gezi Park-Protesten immer wieder mit Repressionen konfrontiert. Mit einem Gerichtsurteil vom 1. Dezember soll nun der gesamte Vorstand der Union der Ärztekammern abgesetzt werden.
Das Verfahren war eröffnet worden, nachdem die Vorsitzende Şebnem Korur Fincancı in einem Interview erklärte, Vorwürfe eines Giftgaseinsatzes durch die türkische Armee im Nord-Irak müssten international untersucht werden. Daraufhin wurde ihr unterstellt, sie werfe der türkischen Armee einen Giftgaseinsatz vor. In späteren Interviews hat sie betont, dass die einzige Möglichkeit einer Entkräftung eines solchen Vorwurfes eine unabhängige Untersuchung sei.
Interessant ist, dass in diesem Fall nicht der Vorwurf von Terror-Propaganda erhoben, sondern zivilrechtlich vorgegangen wurde. Dass die Union der türkischen Ärztekammern ebenso wie die übrigen Berufskammern der Regierung ein Dorn im Auge sind, ist bekannt. Die Rechtsanwaltskammer beispielsweise wurde bereits abgestraft, indem in Großstädten parallele Kammern zugelassen wurden. Entmachtet wurden die Anwaltskammern damit zwar nicht, aber gefügigere Parallelstrukturen geschaffen.
Auch sechs Monate nach den Wahlen machen dem Land und vor allem seiner Bevölkerung die anhaltende hohe Inflation zu schaffen. Mit der Neubesetzung des Finanzministeriums und der Zentralbank wurde eine Abkehr von der Niedrigzinspolitik mit ihrem kurzfristigen Wachstum über Exporte und Konsum eingeleitet. Ob und wann der Kurswechsel in der Finanz- und Wirtschaftspolitik Erfolge zeigt und wie sich dies auf die Privathaushalte auswirkt, ist noch unklar. Vorerst müssen sich die privaten Haushalte auf eine weitere Verschlechterung ihrer wirtschaftlichen Lage einstellen.
Finanzminister Şimşek: Finanzpolitischer Feuerwehrmann?
Die Berufung von Mehmet Şimşek zum Finanzminister löste in Wirtschaftskreisen Erleichterung aus und die Hoffnung, dass mit ihm die geldpolitischen Experimente eingestellt würden. Zugleich wurde Hafize Gaye Erkan zur Präsidentin der Zentralbank ernannt. Seither wurde der Leitzins von 8,5 Prozent auf 40 Prozent erhöht und damit eine Abkehr von der Niedrigzinspolitik eingeläutet. Zahlreiche Maßnahmen, mit denen insbesondere in Devisen- und Bankgeschäfte eingegriffen wurde, wurden gelockert oder ganz aufgehoben. Zugleich begann die Zentralbank die Devisenreserven wiederaufzubauen. Außerdem wurde die Mehrwertsteuer erhöht und die Kraftfahrzeugsteuer zweimal erhoben.
Doch der Prozess schreitet langsam voran. Bis zu den Wahlen im Mai war das Leistungsbilanzdefizit stark angestiegen. Hintergrund war zum einen das schnell steigende Außenhandelsdefizit und zum anderen ein hoher Abfluss internationaler Kapitalanlagen. Finanziert wurde das Leistungsbilanzdefizit zu einem bedeutenden Anteil aus den Reserven der Zentralbank. Dies wiederum erhöhte die Risikobewertung türkischer Anleihen und schwächte die Türkische Lira. Bei den Nettoreserven der Zentralbank (abzüglich der Einlagen ausländischer Zentralbanken) hat sich der Anstieg des Defizits zwar verlangsamt, doch noch keine Trendwende eingestellt. Nach Angaben der Oppositionspartei CHP belief sich Anfang November 2023 das Netto-Defizit der Devisenreserven auf 56,4 Mrd. Dollar.
Die schrittweisen Zinserhöhungen der Zentralbank haben zu einer Senkung der Risikobewertung türkischer Anleihen geführt. Auch bei den internationalen Ratingagenturen verbesserten sich die Begleitnoten. Doch eine Zunahme der dringend benötigten internationalen Investitionen blieb bisher aus. Dazu mag beitragen, dass das verlorene Vertrauen in die Geld- und Wirtschaftspolitik noch nicht wiederhergestellt ist. Bisher scheint unsicher, ob nicht wieder eine politische Kehrtwende folgt und Finanzminister Şimşek oder die Zentralbankpräsidentin Gaye Erkan abgelöst werden. Diese geringe Vorhersehbarkeit macht das Land weniger attraktiv für Investitionen.
Unumstritten ist die neue Geldpolitik nicht. Die schrittweisen Zinserhöhungen nähren die Erwartung, dass weitere Erhöhungen folgen werden. Dies könnte eine Anhebung der Zinsen über ein Niveau erfordern, das bei einer einmaligen großen Zinserhöhung niedriger ausfallen könnte. Zudem sind die Staatsausgaben gestiegen. Ein Sparappell des Finanzministers zeigte bisher keine erkennbare Wirkung. Ohnehin ist fraglich, ob mit Blick auf die bevorstehenden Kommunalwahlen unbeliebte Maßnahmen wie weitere Zins- oder Steuererhöhungen durchgesetzt werden.
Mittelfristige Programme und 5-Jahresplan
Neben den Versuchen, die Türkei aus der unmittelbaren finanzpolitischen Krise zu führen, legte die Regierung im September ihr mittelfristiges Wirtschaftsprogramm für 2024-26 vor. Das mittelfristige Wirtschaftsprogramm wurde mit großer Spannung erwartet, weil sich die Öffentlichkeit Aufschluss darüber versprach, ob sich die bei der Geldpolitik eingeleitete Kehrtwende auch im wirtschaftlichen Gesamtprogramm für die kommenden drei Jahre niederschlagen würde. Das Dokument enthält zum einen Schätzwerte für wichtige volkswirtschaftliche Indikatoren und zum anderen politische Leitsätze für die Wirtschaftspolitik.
Ein Schwerpunkt des neuen Programms für 2024-26 ist die Inflationsbekämpfung. Im kommenden Jahr soll die Inflation auf 33 Prozent sinken, 2026 soll sie nur noch 8,5 Prozent betragen. Zugleich geht das Programm davon aus, dass der Dollar-Wechselkurs im kommenden Jahr auf 36,78 Lira für einen Dollar steigt. Bei einem solchen Wertverlust der Lira wirkt eine Halbierung der Inflation mindestens optimistisch. Diese Prognosen sind auch deswegen relevant, weil Finanzminister Şimşek erklärte, dass künftig Lohnerhöhungen sich nicht an der aktuellen Inflation, sondern am Inflationsziel zu orientieren haben.
Ein anderer Aspekt ist das Dilemma, dass Inflationsbekämpfung oft auf Kosten des Wirtschaftswachstums geht. Hier sieht das Programm ein durchschnittliches Wachstum von 4,5 Prozent vor, das überwiegend durch den Export getragen werden soll. Demgegenüber soll der Beitrag des privaten Konsums von jetzt mehr als 10 Prozent auf drei Prozent zurückgehen. Letztendlich soll also die Bevölkerung den Gürtel enger schnallen.
Im Oktober hat das Präsidialamt außerdem dem Parlament den neuen 5-Jahresplan für die Jahre 2024-28 vorgelegt. Nach dem Militärputsch von 1960 wurde die Staatliche Planungsagentur gegründet und in der Verfassung verankert, zugleich wurde mit der Auflage von 5-Jahresplänen begonnen. Diese Pläne hatten bis zum Putsch von 1980 einen verbindlichen Charakter für Regierungsentscheidungen. In der Verfassung von 1983 wurde die Verbindlichkeit aufgehoben und schließlich wurde die Planungsagentur ganz abgeschafft und ging im Präsidialamt auf.
Der aktuelle5-Jahresplan sieht vor, dass im Jahr 2028 die Inflation bei 4,7 Prozent liegt und ein Pro-Kopf-Einkommen von 17.545 Dollar erreicht wird. Das Wirtschaftswachstum soll in den kommenden fünf Jahren durchschnittlich 5,6 Prozent betragen. Ein Blick in die Vergangenheit zeigt jedoch, dass die bestehenden Ziele teilweise schon früher formuliert und nicht erreicht wurden. Eine wirkliche wirtschaftspolitische Schwerpunktsetzung lässt sich aus dem Plan nicht ablesen.
Sinkende Kaufkraft und höhere Verschuldung
Das türkische Statistikinstitut gibt die Jahresinflation für November mit fast 62 Prozent an. Der von der unabhängigen Arbeitsgruppe Inflation ENAG ermittelte Wert liegt mit 129,27 Prozent mehr als doppelt so hoch. Doch selbst wenn man von den offiziellen Werten ausgeht, sind verschiedene Bevölkerungsgruppen unterschiedlich betroffen. Da die Inflation bei Nahrungsmitteln, Wohnen und Verkehr deutlich über dem Gesamtindex liegen, untere Einkommensgruppen aber einen größeren Anteil ihres Einkommens darauf verwenden müssen, sind sie deutlich stärker betroffen als höhere Einkommensgruppen.
Die Istanbul Planungsagentur, eine Dienststelle der Metropolverwaltung, gab für Oktober die Lebenshaltungskosten einer vierköpfigen Familie mit 44.561 TL an. Damit waren die Kosten im Jahreszeitraum um fast 80 Prozent gestiegen. Ein Mindestlohn beträgt derzeit 11.402 TL, die Mindestrente liegt bei 7.500 TL. In Metropolen wie Istanbul und Ankara übersteigt die durchschnittliche Miete den Mindestlohn bei weitem. Dies führt dazu, dass auch qualifizierte Berufsgruppen auf Zweitjobs angewiesen sind und mehr Familienmitglieder erwerbstätig sein müssen, um den Haushalt zu finanzieren. Für junge Menschen erschwert dies die Gründung eines eigenen Haushalts.
Gleichzeitig steigt die Obergrenze für die Zinsen von Individualkrediten, zuletzt um rund 15 Prozent auf fast 93 Prozent. Die Aufnahme von Krediten wird damit teurer und die private Verschuldung, die viele Haushalte betrifft, verschärft sich. Gleichwohl steigt das Kreditvolumen von Privatpersonen trotz der erhöhten Zinsen weiter an. Die Bankenaufsicht BDDK gibt den Anstieg der Kreditkarten- und Girokonten-Schulden von Jahresbeginn bis September mit jeweils rund 180 Prozent an. Während damit das Risiko der Zahlungsunfähigkeit für Privatpersonen immer weiter steigt, zwingen die gestiegenen Lebenserhaltungskosten zum weiteren Einsatz von Überziehungskrediten und Kreditkarten.
Abwanderung von Ärzten und Pflegepersonal
Seit Jahresbeginn schlägt die Union der türkischen Ärztekammern Alarm, weil sie mit einer beständig steigenden Zahl von Auswanderungsanträgen von Ärzt:innen konfrontiert ist. Diese benötigen für eine Tätigkeit im Ausland eine Bescheinigung der Ärztekammer. Allein von Januar bis Oktober wurden rund 2.500 solcher Anträge gestellt. Diese immer neuen Rekorde machen die kritische Situation sichtbar. Über die Abwanderung von Gesundheitspersonal gibt es keine Statistiken, doch wird auch hier von einer steigenden Zahl berichtet.
Als Folge der Abwanderung fehlen in einigen Städten vor allem Fachärzt:innen. Zudem wird über lange Wartezeiten bei der Vergabe von Terminen geklagt, die selbst laufende Behandlungen verzögern können. Die Gründe für die Abwanderung werden vor allem mit Arbeitsüberlastung, unzureichender Bezahlung sowie zunehmender Gewalt gegen Gesundheitspersonal angegeben. Die Automatisierung der Terminvergabe in staatlichen Krankenhäusern hat zu einer enormen Arbeitsverdichtung geführt, so dass ein Arzt täglich bis zu 100 Patienten empfangen muss. Bei den Patient:innen und Angehörigen erhöht die schlechtere Versorgung die Gewaltbereitschaft. Die Ärztinnen und Ärzte wiederum fühlen sich allein gelassen und halten die Strafen und Strafverfolgung von Übergriffen gegen Gesundheitspersonal für unzureichend. Die Reaktion von Staatspräsident Erdoğan, der erklärte, „wer gehen will, soll gehen, wir werden sie schon ersetzen“, hat dieses Gefühl noch verstärkt und befeuert die Abwanderung weiter.
Hinzu kommen die Gründe, die auch für andere Fachkräfte bei der Entscheidung für eine Auswanderung zum Tragen kommen. Die Sorge um die Zukunft der eigenen Kinder, der Gedanke, bessere Bedingungen für die eigene berufliche Entwicklung zu finden und das Gefühl, im Zielland freier leben zu können, spielen für viele Hochqualifizierte eine wichtige Rolle.
In der türkischen Außenpolitik zeichnen sich unter dem neuen Außenminister Fidan keine grundsätzlichen Änderungen ab. Der Nahostkonflikt beschäftigt Politik und Bevölkerung auch in der Türkei und war ebenfalls Thema beim Deutschlandbesuch von Staatspräsident Erdoğan.
Außenminister Fidan: Neuerungen in der Außenpolitik?
Ende September veröffentlichte der neue Außenminister Hakan Fidan einen englischsprachigen Grundsatzartikel zur Außenpolitik in der Zeitschrift Insight des AKP-nahen Think Tanks SETA. Der Artikel war so etwas wie eine öffentliche Vorstellung des Ministers und früheren Chefs des Geheimdienstes MIT im neuen Arbeitsbereich.
Fidan präsentiert in diesem Beitrag die Türkei als ein aufstrebendes Land, das sich weltweit für Frieden und Wohlstand einsetzt. Er verweist auf die Forderung einer Reform der UN und erklärt, dass die Türkei in regionalen Fragen stärker mit ihren Nachbarn zusammenarbeiten wolle. Zugleich wiederholt er die türkische Position, dass es eine internationale Zusammenarbeit bei der Bekämpfung des Terrorismus geben müsse und weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass PKK und YPG zur Destabilisierung Syriens und des Iraks beitragen. Sein Anliegen einer institutionalisierten Außenpolitik bezieht sich insbesondere auf die NATO und den EU-Beitrittsprozess.
Ein wirklich neues Konzept stellt Fidan nicht vor. Der Text spiegelt die Bemühungen zur Verbesserung der Beziehungen zu Nachbarländern, den arabischen Staaten und den westlichen Ländern wider, ohne insbesondere in den USA-Beziehungen die Konflikte auszuklammern. Bestimmt wurde die türkische Außenpolitik in den letzten Jahren vor allem durch Staatspräsident Erdoğan. Hinzu kommt, dass Hakan Fidan auch als Chef des Geheimdienstes bereits in die Außenpolitik der letzten Jahre involviert war. Größere Veränderungen in diesem Bereich sind daher nicht zu erwarten.
Beziehungen zu Israel nahe am Nullpunkt
Die jüngste Eskalation im Nahostkonflikt beschäftig auch in der Türkei Politik und Gesellschaft sehr. Nachdem sich die jahrelang angespannten Beziehungen zwischen Ankara und Tel Aviv seit 2022 langsam wieder normalisiert hatten, befinden sich diese jetzt wieder nahe am Nullpunkt.
Unmittelbar nach dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 hatte Staatspräsident Erdoğan zunächst eine vermittelnde Position eingenommen und eine Mediationsrolle für die Türkei gesehen. In der weiteren Entwicklung des Konflikts und angesichts der wachsenden Empörung in der Bevölkerung gegen Angriffe der israelischen Armee auf zivile Ziele im Gaza-Streifen verschärfte sich der Ton Erdoğans gegenüber Israel und Ministerpräsident Netanyahu allerdings zunehmend. Die Botschafter beider Länder sind seit einiger Zeit abgezogen.
Die Unterstützung der israelischen Regierung durch die europäischen Staaten und die USA hat dazu geführt, dass diesen seitens der Türkei Doppelstandards im Hinblick auf Völkerrecht und Menschenrechte vorgeworfen werden. Die Unterstützung für die Palästinenser:innen in der Bevölkerung ist hoch und findet auch bei Großdemonstrationen Ausdruck. Der Schutz jüdischer Einrichtungen und Synagogen wurde stark verstärkt, Angriffe auf diese blieben bisher aus.
Deutschlandbesuch von Staatspräsident Erdoğan
Der Nahostkonflikt war auch Thema beim Staatsbesuch von Staatspräsident Erdoğan in Berlin am 17. November 2023. Der Besuch wurde bereits im Vorfeld durch die unterschiedlichen Bewertungen des Kriegs zwischen Israel und der Hamas überschattet. In der gemeinsamen Pressekonferenz mit Bundeskanzler Olaf Scholz prallten die Positionen offen aufeinander, der befürchtete Eklat blieb aber aus. Staatspräsident Erdoğan gab sich, nachdem er zuvor die Hamas als Freiheitskämpfer bezeichnet hatte, vergleichsweise gemäßigt. Einigkeit bestand darin, dass ein Flächenbrand in der Region vermieden und ein Ende des Konfliktes auf Basis einer Zwei-Staaten-Lösung angestrebt werden müsse.
Von deutscher Seite verband sich mit dem Besuch die Hoffnung, einen Mechanismus zur Rückführung abgelehnter Asylbewerber:innen aus der Türkei voranzubringen sowie über die Eindämmung der irregulären Migration zu sprechen. Auf türkischer Seite standen Visa-Probleme und die Wiederbelebung der EU-Beziehungen im Mittelpunkt. Über Ergebnisse der Gespräche ist nichts bekannt. Gleichwohl hatte Bundeskanzler Scholz vor dem Gespräch erklärt, dass es eine Übereinkunft zur Ausweitung der Imam-Ausbildung in Deutschland gäbe, um eine weitere Entsendung von Imamen aus der Türkei unnötig zu machen. Von deutscher Seite wurde zudem Unterstützung beim Wiederaufbau von Bildungseinrichtungen in den von den Erdbeben im Februar betroffenen Regionen zugesagt.
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