Die Türkei steht vor tiefgreifenden Herausforderungen. Die jüngste Initiative zur Lösung der Kurdenfrage wird vielfach als taktisches Manöver für eine mögliche dritte Amtszeit Erdoğans gewertet, während politische Repression weiterhin das gesellschaftliche Klima prägt. Zugleich stehen CHP-geführte Kommunen unter Druck durch staatliche Eingriffe und Finanzblockaden. Hohe Inflation belastet die Bevölkerung, die geplante Mindestlohnerhöhung gilt als unzureichend. Außenpolitisch sucht die Türkei Nähe zu den BRICS-Staaten und westliche Rüstungskooperationen. In der Syrienpolitik bleibt die Lage unklar.
Die türkische Regierung verfolgt aktuell einen überraschenden Kurs in der Kurden-Frage. Eine Initiative von MHP-Chef Bahçeli schlägt vor, PKK-Führer Öcalan in den politischen Prozess einzubinden, was heftige Debatten auslöste. Die Initiative wirkt daher weniger wie ein ernsthafter Friedensversuch und vielmehr wie ein taktisches Manöver, um politische Vorteile zu sichern und möglicherweise die kurdische Bevölkerung zu spalten. Zugleich verschärft sich die politische Repression, etwa durch Absetzungen von Bürgermeister:innen.
Ein vielschichtiger Konflikt
Nach dem Militärputsch von 1980 war es Staatspolitik, die Existenz von Kurd:innen in der Türkei zu leugnen. Sie waren „Bergtürk:innen“. Nach dem Scheitern des Prozesses zur friedlichen Lösung des Kurden-Konflikts 2014 erklärte Staatspräsident Erdoğan, es gäbe kein „Kurden-Problem“ mehr, es gäbe nur noch die (individuellen) Probleme von Kurd:innen. Eine ähnliche Position nimmt heute Mehmet Uçum, ein Berater des Staatspräsidenten ein, der erklärt, die Probleme der Kurd:innen in der Türkei seien gelöst. Es bliebe nur noch das Problem jenseits der türkischen Grenzen. Gleichwohl zeigen die Diskussionen seit der Wiedereröffnung des Parlaments, dass die Regierung ein Problem sieht, das sie abstellen möchte: den PKK-Terrorismus. Bei der Parlamentseröffnung hatte der MHP-Vorsitzende Devlet Bahçeli die beiden Vorsitzenden der prokurdischen DEM- Partei mit einem Handschlag begrüßt. Bis zu diesem Augenblick ein undenkbares Ereignis, denn die MHP fordert das Verbot der DEM und betrachtet sie als verlängerten Arm der PKK. Dann wiederholte Devlet Bahçeli erneut seinen Vorschlag, der inhaftierte Führer der PKK Abdullah Öcalan solle bei einer Fraktionssitzung der DEM zur Auflösung der PKK aufrufen. Er stellte dazu sogar eine Gesetzesinitiative in Aussicht, die für Öcalan eine Freiheitsperspektive beinhaltet.
Die Zahl der Kurd:innen in der Türkei wird auf 15 Millionen der insgesamt 86 Mio. Einwohner geschätzt, eine wirkliche Zahl kann jedoch nicht genannt werden, weil sie nicht erhoben wird. Traditionell lebten Kurd:innen vor allem in den türkischen Südost-Provinzen, in Nord- Syrien, dem Nordosten des Iraks und des West-Irans. Heute lebt ein großer Teil der türkischen Kurd:innen in den westlichen Großstädten des Landes. Dazu hat die sozioökonomische Rückständigkeit der Südost-Provinzen genauso beigetragen wie die Massenvertreibungen aus den Dörfern der Region im Zuge der Bekämpfung der PKK. Das Leben in Metropolen wie Istanbul, Ankara, Izmir oder Adana hat die kurdische Identität nicht zwangsläufig verdrängt, aber es hat die Werte und politischen Ausrichtungen vieler Kurd:innen spürbar geprägt. Insbesondere die stärkere soziale Durchmischung und die Anpassung an urbane Lebensweisen haben traditionelle Strukturen innerhalb der kurdischen Gemeinschaft aufgebrochen und verändert.
Betrachtet man die Diskussionen, so lassen sich drei Dimensionen des Konflikts unterscheiden. Zunächst geht es um die Forderung nach Anerkennung der kurdischen Kultur und vor allem der Sprache. Eine zweite Dimension betrifft Autonomie, die als Ausweitung kommunaler Selbstverwaltung bis hin zur Forderung nach einer föderalen Struktur der Türkischen Republik verstanden werden kann. Der dritte Aspekt ist ein sicherheitspolitischer, der sich auf die PKK und ihren bewaffneten Kampf in der Türkei, im Irak und Syrien bezieht.
In den vergangenen zwanzig Jahren sind bei der Forderung nach der Anerkennung kultureller Rechte Fort- schritte erzielt worden. Heute ist es nicht mehr verboten, kurdische Musik zu hören, auch wenn dies immer wieder zu Anfeindungen führen kann. Die staatliche Sendeanstalt TRT sendet auch auf Kurdisch. Nichtstaatliche kurdische Medien dagegen haben wirtschaftlich wie politisch große Schwierigkeiten. Seit 2012 kann Kurdisch als Wahlfach in der Mittelstufe gelernt werden. Einer Ausweitung dieses Angebotes jedoch steht neben politischen Widerständen das Verfassungsgebot entgegen, dass die Unterrichtssprache an türkischen Schulen Türkisch ist.
Kommunale Selbstverwaltung bietet zum einen Raum für die Anerkennung kurdischer Kultur – beispielsweise indem der Kontakt mit der Kommune auch auf Kurdisch erfolgen kann. Zum anderen kann sie auch für Projekte der Frauen- und Jugendpolitik genutzt werden. In der kurdischen Politik hat es verschiedene Forderungen gegeben: Von der Gründung eines Kurdistans außerhalb der Türkei über ein autonomes kurdisches Gebiet in der Türkei bis hin zur Stärkung kommunaler Selbstverwaltung. Eine 2016 erlassene Verordnung mit Gesetzeskraft wiederum ermöglicht es dem Innenministerium, Bürger- meister, gegen die ein Ermittlungsverfahren eingeleitet wurde, abzusetzen und an deren Stelle den Landrat oder Provinzgouverneur einzusetzen. Seit Erlass dieser Verordnung wurde sie mehr als 160 Mal angewendet. Über zwei Amtsperioden hinweg wurden nahezu alle Bürgermeister:innen, die von kurdischen Parteien gestellt wurden, auf diese Weise ihres Amtes enthoben.
Die Rechtfertigung für diese Praxis bietet die Sicherheitspolitik, denn in der Regel wird gegen die Bürgermeister:innen ein Ermittlungsverfahren wegen Mitgliedschaft in der PKK bzw. Propaganda für diese eingeleitet. Die Verbotsverfahren gegen kurdische Parteien dagegen stützen sich nicht direkt auf den Terrorismusvorwurf, sondern auf die Unterstellung von Separatismus.
Die auch in Deutschland als Terrororganisation verbotene PKK, die Arbeiterpartei Kurdistans, wiederum ist nicht leicht begrifflich zu fassen. Auch wenn die Abkürzung bei- behalten wird, so hat sie seit ihrer Gründung unter Führung von Abdullah Öcalan 1978 mehrfach den Namen, aber auch ihre politische Ausrichtung geändert. Von anderen linken und kurdischen Gruppen der 1970er Jahre unterscheidet sie sich von Anfang an nicht zuletzt dadurch, dass sie den bewaffneten Kampf als vordergründiges Mittel zur Durchsetzung ihrer politischen Ziele vorsieht. Seit 2007 nennt sich die Dachorganisation KCK (Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans). Als Leitfigur gilt Abdullah Öcalan, der 1998 verhaftet wurde und nun in einem Spezialgefängnis auf der Marmarainsel İmralı sitzt. Sie unterhält einen militärischen Arm und verfügt über eine Frauen- und eine Jugendorganisation. Ihre militanten Aktionen nahmen ihren Anfang in der Bekämpfung von Großgrundbesitzern und Führern kurdischer Stämme, richteten sich aber vor allem auf den türkischen Staat.
Dialogbereitschaft und Vertrauen
Mehr als vierzig Jahre bewaffneter Kampf hat einen hohen Blutzoll gekostet. Auf Seiten der PKK wurden unterschiedliche Strategien angewendet – von Angriffen auf türkische Sicherheitskräfte nach Guerilla-Art bis hin zum Städtekrieg 2016, in dem die PKK versuchte, einen Stellungskrieg zu führen. In den 1990er Jahren setzten türkische Sicherheitskräfte darauf, den Nachschub der PKK zu unterbinden, indem ganze Landstriche in den Südost-Provinzen entvölkert wurden. Dörfer wurden geräumt, die Bevölkerung Hals über Kopf in die Städte ab- geschoben. Entführungen und Erschießung türkischer Lehrer:innen oder auch Bombenanschläge in westtürkischen Innenstädten, aber auch Antiterror-Operationen forderten eine hohe Zahl ziviler Opfer.
Gleichwohl hat es seit den 1990er Jahren immer wieder Versuche gegeben, einen Dialog zwischen PKK und türkischen Regierungen zu führen. Der Prozess zur friedlichen Lösung des Kurden-Konflikts von 2010-2015 stellte den bisher umfassendsten Versuch dar. Auf der einen Seite wurde Kurdisch in der Öffentlichkeit zugelassen, auf der anderen Seite der inhaftierte PKK-Führer Öcalan eingebunden. Doch der Prozess scheiterte im März 2015. Manche sehen die Ursache in der Verweigerung der Unterstützung der HDP bzw. ihres Co-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş, den Übergang zum Präsidialsystem zu unterstützen. Doch auch für die PKK boten sich nach internationaler Unterstützung im Kampf gegen die Milizen des „Islamischen Staats“ (IS) in Nord-Syrien neue Perspektiven zur wenigstens teilweisen Verwirklichung ihrer Ziele.
Nicht zuletzt aus diesem Grund verschob sich das Engagement der türkischen Regierung im syrischen Bürgerkrieg vom Sturz des Assad-Regimes und der Bekämpfung des IS auf die Verhinderung autonomer kurdischer Gebiete in Syrien. Offiziell sind die syrische PYD und die PKK zwar Schwesterparteien, für die türkische Regierung jedoch sind sie eine Einheit. Es folgten mehrere Militäroperationen in Syrien, bei denen weite Gebiete in Nord-Syrien unter türkische Kontrolle gerieten.
Heute hat die PKK ihre Kämpfer:innen weitgehend aus der Türkei abgezogen. Gleichzeitig hat die türkische Armee durch die Einrichtung von Stützpunkten im Nordirak und in Syrien eine Art Pufferzone geschaffen und verfolgt das Ziel, die PKK durch gezielte Angriffe auf führende Persönlichkeiten zu schwächen. Im Innern wurden mit dem Ende des Prozesses zur friedlichen Lösung des Kurden-Konflikts zahlreiche Politiker:innen kurdischer Parteien mit dem Vorwurf der Mitgliedschaft in der PKK bzw. Propaganda für sie inhaftiert. Der beständige Terrorismusvorwurf drängte die HDP, gegen die ein Verbotsverfahren läuft, ins politische Abseits. Aufgrund des Verbotsverfahrens beschloss die HDP darum, bei der Parlamentswahl 2023 unter dem Dach der DEM-Partei anzutreten.
Der aktuelle „Prozess“
Umso überraschender war der Handschlag des MHP-Vorsitzenden Bahçeli mit den Vorsitzenden der DEM-Partei und seine Öcalan-Initiative. Die DEM-Partei reagierte auf die Entwicklung mit vorsichtigem Optimismus. Die Initiative Bahçelis sei wertvoll, insbesondere auch, dass sie Öcalan in den Mittelpunkt stellt. Die Absetzung der Bürgermeister:innen in drei von der DEM-Partei regierten Städten am 4. November und die Einsetzung von Zwangsverwaltern haben erneut Zweifel an den Absichten des Regierungsbündnisses geweckt.
Ein zweiter Anlass zur Verunsicherung ist, dass Staatspräsident Erdoğan sich bisher nicht direkt zu den Äußerungen seines Bündnispartners geäußert hat. Er betont, dass es zwischen AKP und MHP keine Differenzen gäbe, erklärt aber auch, dass die Operationen gegen die PKK fortgesetzt werden. Auch fordert er von den USA grünes Licht für eine weitere Operation gegen die PYD/YPG in Syrien.
Am 23. Oktober 2024 verübte die PKK einen Anschlag auf das Rüstungsunternehmen TUSAŞ in Ankara, bei dem sieben Menschen getötet und 21 verletzt wurden. Es war nach längerer Zeit der erste Anschlag der PKK in der Türkei und kann darum kaum unabhängig von der Initiative Bahçelis bewertet werden.
Der CHP-Vorsitzende Özel begrüßt die Initiative Bahçelis, hebt aber hervor, dass der Ort zur Lösung des Kurden-Konflikts das Parlament sein müsse. Er weist darauf hin, dass dieser Konflikt nicht als gelöst betrachtet werden könne, solange die kurdische Bevölkerung dies nicht so empfinde. Außerdem fordert er die Hinterbliebenen von gefallenen Sicherheitskräften und Zivilisten einzubeziehen.
Am 31. Oktober 2024 wurde der CHP-Bürgermeister des Istanbuler Stadtbezirks Esenyurt zunächst verhaftet und anschließend durch das Innenministerium seines Amtes enthoben. An seiner Stelle wurde der zuständige Land- rat als Zwangsverwalter eingesetzt. Man könnte für den türkischen Begriff auch „Treuhänder“ sagen, doch trifft dies nicht die Praxis: ein Treuhänder handelt im Sinne der Person, die er vertritt. Die Zwangsverwalter jedoch treffen politische Entscheidungen entgegen der Positionen des vorherigen Amtsinhabers oder auch der Ratsmehrheit. Dazu gehören insbesondere auch Verkaufs- und Privatisierungsentscheidungen sowie die Vergabe öffentlicher Aufträge.
Dass mit Esenyurt ein Anfang gemacht wurde, wird nicht zuletzt auf das informelle Wahlbündnis von CHP und DEM-Partei in diesem Stadtbezirk zurückgeführt. Die MHP hat dazu aufgerufen, in ähnlicher Weise auch in anderen Kommunen zu verfahren, in denen es Absprachen zwischen CHP und DEM-Partei gegeben hat. Nach drei Amtsenthebungen am 4. November erfolgten zwei weitere am 22. November, darunter auch der CHP-Bürgermeister von Ovacık.
Die kontinuierlichen Protestaktionen von CHP und DEM-Partei bringen beide Parteien in einem bisher nicht gekannten Maße zusammen. Doch dies bleibt in der CHP nicht ohne Widerspruch. Zwar gibt es keine Einwände gegen die Pro- teste gegen die Einsetzung von Zwangsverwaltern. Doch den Eindruck einer Gemeinsamkeit mit der DEM-Partei ist für den rechten Flügel der CHP nicht akzeptabel.
Über die Ziele des Öcalan-Vorstoßes von Devlet Bahçeli wird intensiv diskutiert. Bleibt man bei den Aussagen von MHP und AKP, soll Abdullah Öcalan die PKK zur Auflösung bewegen. Dies erscheint wenig realistisch, da selbst bei einer Bereitschaft der PKK-Führung noch zahlreiche ungeklärte Fragen beantwortet werden müssten. Im Mittelpunkt dürfte dabei ganz praktisch Straffreiheit für die Mitglieder sowie Freilassung der Gefangenen aus türkischer Haft stehen. Indirekt wird dies auch von Staatspräsident Erdoğan so gesehen, der erklärt, die PKK müsse zunächst ihre Waffen niederlegen, danach werde die Regierung alles tun, um neue Perspektiven zu eröffnen.
Dass Schritte im Hinblick auf die Anerkennung der kurdischen Identität oder einer Absicherung bzw. Ausweitung kommunaler Selbstverwaltung geplant sind, ist nicht erkennbar. Es handelt sich in diesem Sinne also nicht um einen „Prozess zur Lösung des Kurden-Konflikts“, sondern bisher nur um einen Versuch, die PKK zur Auflösung zu bewegen.
Bewirkt hat er jedoch eine Zunahme der Spannungen in der CHP, die dem Regierungsbündnis sehr gelegen kommen. Gelingt es zudem der Regierung, Abdullah Öcalan und die DEM-Partei in einen offenen Dissens zur PKK zu bringen, könnte dies die Sympathien für die PKK in Teilen der kurdischen Bevölkerung verringern.
Die CHP, gestärkt durch den Erfolg bei der Kommunalwahl, steht vor internen Spannungen. Parteichef Özel sieht sich Kritik an seiner „Normalisierungspolitik“ und einem kontroversen Manöver im Parlament ausgesetzt. Währenddessen betonen Fraktionen um İmamoğlu, Yavaş und Kılıçdaroğlu unterschiedliche Ausrichtungen. Zugleich stehen CHP-geführte Kommunen unter Druck durch staatliche Eingriffe und Finanzblockaden.
CHP sucht ihren Weg
Nach dem Sieg bei der Kommunalwahl wurde die CHP auch in den folgenden Monaten in den meisten Umfragen zur stärksten Partei. Doch seit Oktober 2024 verringert sich der Vorsprung. Zwar konnte mit dem Satzungsparteitag im September Geschlossenheit demonstriert werden, doch gruppieren sich in der Partei Fraktionen entlang der vier Führungspersönlichkeiten. Am deutlichsten wird dies beim Vorsitzenden Özgür Özel, der nicht nur aufgrund seiner „Normalisierungspolitik“ Kritik hinnehmen musste. Istanbuls Oberbürgermeister Ekrem İmamoğlu nutzt sein Amt als Vorsitzender der Union türkischer Kommunen, um verstärkt auch landesweit tätig zu werden. Ankaras Oberbürgermeister Mansur Yavaş dagegen positioniert sich als Vertreter nationalistischer Positionen. Und der frühere Vorsitzende Kemal Kılıçdaroğlu stellt sich offen gegen die Normalisierungspolitik mit der Position: Mit der Regierung soll man nicht sprechen, sondern sie bekämpfen.
In türkischen Parteien haben die Vorsitzenden eine starke Stellung bei der politischen Positionierung. Doch trotz des Wahlsieges bei der Kommunalwahl kann Özgür Özel alles andere als unangefochten gelten. Nach der Kommunalwahl hatte Özel dem Staatspräsidenten einen Dialog angeboten. Zum Beginn des Parlamentsjahres hatte er daran angeknüpft. Er hatte verlangt, dass die Abgeordneten der CHP-Fraktion beim Eintritt des Staatspräsidenten aufstehen sollen, um ihm die Ehre zu erweisen. Dies sei keine Geste gegen über der Person, sondern dem Amt und würde von der Bevölkerung erwartet. Die CHP-Fraktion hatte seit Jahren durch Sitzenbleiben demonstriert, dass sie das Präsidialsystem für illegitim hält. Doch das Manöver von Özel geriet zum Debakel. Ein Teil der Fraktion stand auf, ein Teil blieb fern und einige CHP-Parlamentarier blieben sitzen.
Während dies die Meinungsverschiedenheiten in der Partei offensichtlich machte, weckte die Annäherung an die DEM-Partei bei den Protesten gegen die Einsetzung von Zwangsverwaltern in Kommunen offenen Widerstand des rechten Parteiflügels. Als ein Abgeordneter daraufhin den Vorsitzenden offen kritisierte, brachte er außerdem die Möglichkeit, einen Parteitag einzuberufen, ins Spiel. Dies wurde von der Parteiführung abgelehnt, weil es nicht die Zeit sei, über sich selbst zu diskutieren.
Die neue CHP-Führung hatte ein Jahr zuvor die Wahl beim Parteitag mit dem Slogan „Wandel“ gewonnen. Der Satzungsparteitag sollte diesen Wandel zudem durch neue Möglichkeiten innerparteilicher Demokratie und Meinungsfindung untermauern. Zunächst jedoch sorgen die Spannungen zwischen den Parteiflügeln für Verärgerung an der Basis. Und dann steht die CHP vor dem Dilemma, ständig mit neuen Themen konfrontiert zu werden, ohne mit eigenen Politikentwürfen Alter- nativen vorstellen zu können.
Druck auf CHP-Kommunen
Im Gegensatz dazu hat die CHP mit der Übernahme der Regierung in den größten Städten der Türkei die Gelegenheit erhalten, ihre praktische politische Kompetenz unter Beweis zu stellen. Während der ersten Amtszeit von Ekrem İmamoğlu fanden Projekte wie die Stadtlokale, die auch Menschen mit geringem Einkommen eine erschwingliche und ausgewogene Mahlzeit ermöglichen, sowie die kommunale Jugendförderung großen Anklang. Diese Initiativen wurden so erfolgreich umgesetzt, dass sie inzwischen auch von AKP-geführten Kommunen übernommen werden.
Anlässlich der Konzerte zum Nationalfeiertag am 29. Oktober 2024 geriet die CHP, insbesondere in Ankara und Istanbul, in die Defensive. Für die eintrittsfreien Konzerte wurden hohe Summen ausgegeben, was von der AKP in den Stadträten beider Metropolen thematisiert wurde. Die Bürgermeister reagierten mit einer Gegenüberstellung, die beispielsweise für Ankara auf- zeigte, dass während der Amtszeit von Mansur Yavaş bei geringeren Kosten mehr Veranstaltungen organisiert wurden. Dennoch dürfte diese Argumentation angesichts der wirtschaftlichen Herausforderungen, mit denen die Bevölkerung im Alltag konfrontiert ist, nicht vollständig überzeugend gewesen sein.
Doch mit der Einleitung von Ermittlungsverfahren durch die Kommunalaufsicht des Innenministeriums und der Staatsanwaltschaften dürfte die AKP einen Teil dieses Erfolges wieder verspielt haben. Während der Haushaltsdebatten sah sich Innenminister Yerlikaya gezwungen, darauf hinzuweisen, dass ebenso viele Ermittlungen gegen AKP-Kommunalpolitiker:innen wie gegen solche der CHP geführt werden.
Ein anderes Problem, mit denen sich die Kommunen auseinandersetzen müssen, ist der Entzug von Kompetenzen. Nachdem das Regierungsbündnis vor allem die größeren Städte verloren hat, soll nun die Zuständigkeit für Stadtsanierungsprojekte von den Kommunen auf das Ministerium für Stadt und Umwelt übertragen werden. Dies führt zur Einschränkung der Möglichkeiten der Bürgerbeteiligung, was letztlich darauf abzielt, Widerstände zu minimieren. Gleichzeitig steht die Vergabe erheblicher finanzieller Mittel im Fokus der Diskussion.
Der Versuch, Kommunen die Einrichtung von Kindertagesstätten zu verbieten, zeigt die Absurdität auf, zu der eine Politik der Behinderung führt. Das Ministerium für Stadt und Umwelt hat die Kommunen angeschrieben und sie darauf aufmerksam gemacht, dass ihre Kinderbetreuungsstätten rechtswidrig seien. Dazu erinnerte das Ministerium an ein Urteil des Verfassungsgerichts aus dem Jahr 2007. Die CHP weist darauf hin, dass in den von ihr geführten Kommunen 653 Kindergärten betrieben würden. Ziel sei es, ihre Zahl im kommenden Jahr auf 1.000 zu erhöhen. Derzeit nutzen rund 60.000 Kinder die kommunale Kinderbetreuung. Der Andrang ist so groß, dass die Plätze verlost werden müssen. Zwar gibt es auch private Kindertagesstätten, doch ihre Gebühren liegen um ein Vielfaches über denen der Kommunen.
Einmal abgesehen von den Vorteilen kollektiver Erziehung ist die Kinderbetreuung eine grundlegende Voraussetzung für die Erwerbstätigkeit von Frauen. (Natürlich könnte man sagen: „eines Elternteils“ doch ist die soziale Wirklichkeit in der Türkei, dass die Verantwortung für Kindererziehung und –betreuung weitgehend bei den Frauen liegt.) Die Gebühren für private Kindergärten sind so hoch, dass sie ein komplettes Gehalt verschlingen können.
Ein weiterer Hebel, den die Regierung nutzt, um Druck auf die Kommunen auszuüben, sind deren Schulden bei der gesetzlichen Sozialversicherung SGK. Diese Rück- stände haben sich über Jahre hinweg angesammelt, wobei die SGK bis zu den Kommunalwahlen kaum Anstrengungen unternommen hatte, diese einzutreiben. Seit den Wahlen zeigt die SGK jedoch eine deutlich aggressivere Haltung bei der Durchsetzung der Rückzahlungen. So erwirkte sie beispielsweise im Juli gerichtlich eine Kontosperre für die Stadt Mersin, die die Kommune vorübergehend zahlungsunfähig machte. In Bursa wurden zudem Finanzmittel aus dem nationalen Haushalt mit Verweis auf die SGK-Schulden einbehalten.
Verfassungsprojekt der Regierung
Bereits zu Beginn des vorherigen Gesetzgebungsjahres hatte das Regierungsbündnis darauf gedrängt, eine Einigung zwischen den im Parlament vertretenen Parteien zu erzielen, um eine „zivile Verfassung“ zu entwerfen. Dieses Vorhaben knüpft an das zentrale Leitmotiv aller bisherigen Verfassungsinitiativen der AKP an, nämlich die geltende Verfassung von 1982 als ein Überbleibsel des Militärputsches von 1980 darzustellen. Wie viel die geltende Verfassung jedoch noch mit der von 1982 gemein hat, sei dahingestellt. Der gravierendste Eingriff war der Übergang zum Präsidialsystem 2018.
Die Sondierungsgespräche von Parlamentspräsident Numan Kurtulmuş (AKP) über eine neue Verfassung, die inoffiziell darauf abzielt, eine weitere Kandidatur von Präsident Recep Tayyip Erdoğan zu ermöglichen, haben bisher zu keinem Ergebnis geführt. Die Oppositionsparteien sehen zum jetzigen Zeitpunkt keine Notwendigkeit einer Verfassungsdiskussion. Zudem wenden sie ein, dass die geltende Verfassung von der Regierung wiederholt gebrochen wurde.
Zugleich gibt es auch die allgemeine Überzeugung, dass das Hauptanliegen der Regierung sei, die Beschränkung auf zwei Amtszeiten für den Staatspräsidenten aufzuheben, um eine weitere Kandidatur von Recep Tayyip Erdoğan zu ermöglichen.
Für eine Verfassungsänderung oder auch den Erlass einer neuen Verfassung bedarf es der Zustimmung von mehr als 360 Abgeordneten. Das Regierungsbündnis verfügt jedoch nur über 318 Stimmen. Die Zahl der unabhängigen Abgeordneten ist zwölf, d.h. ohne die Unterstützung von CHP, DEM-Partei und/oder Iyi Partei findet sich keine ausreichende Mehrheit.
Im Gegensatz zu einer Verfassungsänderung hat die CHP vorgeschlagen, einen Antrag auf Selbstauflösung des Parlaments zu unterstützen, um vorgezogene Wahlen im Jahr 2025 zu ermöglichen. Eine Selbstauflösung des Parlaments würde den Staatspräsidenten verpflichten, sowohl Parlaments- als auch Präsidentschaftswahlen anzusetzen. Gleichzeitig würde dies ihm jedoch die rechtliche Grundlage bieten, ein drittes Mal für das Amt des Präsidenten zu kandidieren.
Wie das aktuelle Patt überwunden werden soll, bleibt offen. Über die Inhalte einer neuen Verfassung haben die Parteien bisher nicht gesprochen.
Bündnisgespräche unter islamisch-rechten Parteien
Der Erfolg bei den Kommunalwahlen hat nicht nur der CHP, sondern auch der islamischen YRP (Neue Wohlfahrtspartei) von Fatih Erbakan Auftrieb gegeben. In aktuellen Meinungsumfragen erreicht die YRP ein Potenzial von 5-6 Prozent und liegt damit weit über den Potenzialen der anderen religiös-konservativen Parteien. Während der parlamentarischen Sommerpause hat es mehrere Gespräche von Parteien wie DEVA und Gelecek mit der YRP gegeben, bei denen neben Kooperation auch eine Vereinigung ins Gespräch gebracht wurde.
Bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen 2023 unterstützte die YRP das Regierungsbündnis, trat jedoch bei der diesjährigen Kommunalwahl eigenständig an und erzielte Erfolge, darunter den Gewinn einiger kleinerer Kommunen sowie der Metropole Şanlıurfa. Die Gelecek Partei von Ahmet Davutoğlu, die DEVA Partei von Ali Babacan, die Saadet Partei mit ihrem neuen Vorsitzenden Mahmut Arıkan hatten den Einzug ins Parlament nur durch das Oppositionsbündnis erreicht und verfügen im Falle von Neuwahlen kaum über die Chance, erneut ins Parlament gewählt zu werden. Eine Vereinigung unter dem Dach der YRP (Yeniden Refah Partisi – Neue Wohlfahrtspartei) – auch wenn es derzeit wenig Hinweise darauf gibt – könnte das Kräfteverhältnis erheblich verschieben. Die YRP ist sowohl bei Anhänger:innen der Opposition als auch des Regierungslagers beliebt, da sie sich konsequent für religiös-konservative Werte, die Stärkung der Familie und eine klare Ablehnung liberaler gesellschaftlicher Reformen einsetzt. Mit ihren wirtschaftspolitischen Forderungen nach einer islamisch orientierten Ordnung und einer gerechteren Verteilung von Wohlstand spricht sie vor allem konservative und einkommensschwache Wähler:innen an, die sich von der AKP entfremdet haben.
Istanbuls Oberbürgermeister İmamoğlu steht wegen eines Politikverbotsverfahrens unter Druck, das seine politische Zukunft beeinträchtigt. Auch der frühere CHP-Vorsitzende Kılıçdaroğlu sieht sich mit Prozessen konfrontiert, die Haft- und Politikverbote fordern. Zeit- gleich verliert der regierungskritische Sender Açık Radyo seine Lizenz – ein symbolischer Schlag gegen die Medienfreiheit.
Politikverbotsverfahren gegen Ekrem İmamoğlu und Kemal Kılıçdaroğlu
Im Dezember 2022 wurde Istanbuls Oberbürgermeister Ekrem İmamoğlu wegen Beleidigung des Hohen Wahlrates zu einer Freiheitsstrafe von mehr als zwei Jahren sowie einem Politikverbot verurteilt. Zu diesem Zeitpunkt galt er noch als aussichtsreicher Kandidat für die Nominierung durch das Oppositionsbündnis für die Präsidentenwahl. Mit dem drohenden Politikverbot jedoch war seine Kandidatur vom Tisch. Seither befindet sich das Verfahren in der Berufung. Im Oktober 2024 wurde mit einem Urteil gerechnet, doch nach einem Richterwechsel schwebt das Verfahren weiter.
Bereits die erstinstanzliche Verurteilung war auf breite Kritik gestoßen. Der frühere Innenminister Soylu hatte 2019 İmamoğlu einen „Schwachkopf“ genannt. Dieser hatte geantwortet, dass ein Schwachkopf wohl derjenige sei, der die Wiederholung der Oberbürgermeisterwahl in Istanbul angeordnet habe. Es gibt vermutlich wenige in der Türkei, die die Antwort İmamoğlus auf den Hohen Wahlrat bezogen haben. Sie wurde als Replik an Soylu aufgefasst.
Ab Oktober 2024 richtete sich die CHP auf eine Bestätigung der Verurteilung durch das Bezirksgericht Istanbul ein und bereitete eine Kampagne vor. Doch wann ein Urteil ergeht, ist vollkommen offen. Gleichwohl bindet es die Ressourcen der CHP und trägt zur Störung politischer Debatten bei.
Über Jahre war Kemal Kılıçdaroğlu Oppositionsführer und CHP-Vorsitzender. Nachdem er die Präsidentschaftswahl 2023 verloren hat, sitzt er auch nicht mehr im Parlament. Auf diese Weise hat er die parlamentarische Immunität verloren. Am 22. November 2024 begann nun ein Verfahren, in dem gegen ihn eine Haftstrafe von elf Jahren und Politikverbot gefordert wird. Er soll Staatspräsident Erdoğan beleidigt haben. Im Vorfeld des Prozesses erklärte Justizminister Tunç, dass sich jeder ein Beispiel daran nehmen solle. Kılıçdaroğlu habe Ausdrücke gebraucht, die man nicht in den Mund nähme und zeige allen, wohin es führe, wenn man keine konstruktive Politik betreibe.
Insgesamt ist von fünf Strafverfahren und neun staats- anwaltlichen Untersuchungen gegen den früheren CHP- Vorsitzenden die Rede. Kılıçdaroğlu nutzte den ersten Prozesstag für eine einstündige Rede, in der er den Staatspräsidenten einen „Dieb“ nannte und vorschlug, dies zu beweisen. Dies brachte ihm nun noch eine Zivilklage des Staatspräsidenten ein, der eine Entschädigung von einer halben Million TL fordert, weil ihn Kılıçdaroğlu beschimpft habe.
Açık Radyo verliert Sendelizenz
Açık Radyo (“offenes Radio“) ist mit seinem Sendeprofil in der Türkei einzigartig. Von Ökologie über kulturelle Rechte bis zu Menschenrechten war es nicht nur im Internet, sondern auch mit einer Sendelizenz aktiv. Diese wurde mit Wirkung vom 16. Oktober 2024 entzogen. In einer Sendung zum Jahrestag des Deportationsbeschlusses gegen die Armenier im Osmanischen Reich war der Begriff „Völkermord“ verwendet worden. Die Aufsicht für Radio und Fernsehen RTÜK verhängte daraufhin ein fünftägiges Sendeverbot und eine Geldstrafe. Doch die amtliche elektronische Zustellung schlug fehl. Aus diesem Grund sendete der Sender an den vorgesehenen Straftagen weiter. Darauf reagierte RTÜK mit dem Entzug der Sendelizenz. Eine beim Verwaltungsgericht erwirkte einstweilige Anordnung zur Aussetzung der Strafe wurde am 8. Oktober2024 aufgehoben. Die Sendungen werden nun im Internet als „Apaçık Radyo“ (ganz offenes Radio) fortgesetzt.
Die Inflation bleibt alarmierend hoch: Während die Zentralbank für 2025 eine Teuerungsrate von 21 Prozent prognostiziert, rechnen Marktakteure mit deutlich höheren Werten. Der Mindestlohn, eine zentrale Lebensgrundlage für Millionen, steht vor einer Anpassung, die jedoch kaum die massiven Kaufkraftverluste wettmachen dürfte. Gleichzeitig erschüttern Berichte über Gewalt an Frauen das Land. Frauenverbände und Oppositionsparteien drängen auf die Wiederaufnahme der Istanbul-Konvention, um den Schutz von Frauen zu stärken.
Weiterhin hohe Inflation
Die Türkische Zentralbank rechnet mit einer Inflation von 44 Prozent zum Jahreswechsel. Ende November 2024 er- klärte Finanzminister Şimşek, dass die Schätzung von 44-45 Prozent leicht überschritten werden könnte. Im November hat die Zentralbank den Leitzins bei 50 Prozent belassen, doch geht aus der Erklärung zur Zinsentscheidung hervor, dass ein Spielraum besteht, im Dezember eine symbolische Zinssenkung zu beschließen.
Zum Jahresbeginn hatte die Zentralbank die Inflation für 2024 auf 36 Prozent geschätzt. Es zeigt sich jedoch, dass trotz der Zinserhöhung im Frühjahr der Rückgang der Inflation deutlich langsamer verläuft als geplant. Zugleich wächst die Kritik am Inflationsbekämpfungsprogramm. Im Mittelpunkt steht dabei die Haushaltspolitik. Der Haushalt für 2025 wächst deutlich über dem Inflationsziel von 21 Prozent für 2025. Das Haushaltsdefizit wiederum soll nicht durch Einsparungen, sondern vor allem durch Mehreinnahmen verringert werden. Dies bedeutet höhere Steuern und Gebühren, die wiederum zur Inflation beitragen.
Ein weiterer wichtiger Faktor sind die Inflationserwartungen. Die Zentralbank prognostiziert für das Jahr 2025 eine Jahresinflation von 21 Prozent. Eine im November durch- geführte Umfrage zeigt jedoch deutlich abweichende Erwartungen: Der Finanzsektor geht von einer Jahresinflation von 27,2 Prozent aus, das produzierende Gewerbe rechnet mit 47,8 Prozent, während die Verbraucher eine Inflation von 64,05 Prozent erwarten. Diese deutliche Diskrepanz zwischen der Prognose der Zentralbank und den Einschätzungen der Marktakteure lässt die Vorhersage der Zentralbank unrealistisch erscheinen. Zudem verdeutlicht die Kluft, dass es weder der Zentralbank noch der Regierung gelungen ist, die Marktteilnehmer von ihrem Wirtschaftsprogramm zu überzeugen.
Die Planungsagentur Istanbul (IPA) hat im November Modellrechnungen auf der Grundlage des Mindestlohns vorgestellt, die den Kaufkraftverlust darstellen. Seit Januar 2024 beträgt der Mindestlohn 17.002 TL (ca. 470 Euro). Auf der Grundlage der Inflationsberechnung des Türkischen Statistikinstituts entspricht dies zum Jahresende einer Kaufkraft von 11.741 TL, gemessen am Lebenserhaltungsindex der IPA einer von 10.788 TL.
Mindestlohndiskussion
Der Mindestlohn wird von einer Kommission in der Regel für ein Jahr festgelegt, die sich aus je fünf Vertretern des Gewerkschaftsbundes Türk İş, der Arbeitgebervereinigung TISK sowie der Regierung zusammensetzt. Die letzte Entscheidung liegt jedoch bei der Regierung. Direkt sind von ihr sieben Millionen Beschäftigte betroffen. Doch indirekt hat sie eine weit größere Ausstrahlung, weil auch die übrigen Gehälter meist entsprechend der Steigerung des Mindestlohns erhöht werden.
Im Vorfeld der Verhandlungen hatte Finanzminister Şimşek erklärt, dass sich die Steigerung nicht an der Inflation dieses Jahres, sondern am Inflationsziel für das kommende Jahr orientieren sollte. Andernfalls würde seiner Ansicht nach die Inflation zusätzlich angefacht. Dieser Position wurde jedoch nicht nur von Gewerkschaften, sondern auch von Ökonom:innen widersprochen, die sich mit einem Appell an die Regierung wandten. Erwartet wird nun, dass ein Mittelweg gefunden wird. Als Ausgangspunkt der Verhandlungen wird eine Spanne von 25-35 Prozent angesehen.
Auf der anderen Seite wird eingewendet, dass der Mindestlohn ausreichen muss, um eine Familie zu ernähren. Der Gewerkschaftsbund Türk İş hat für Oktober 2024 einen Betrag von 20.432 TL für die Ernährung einer vier- köpfigen Familie ermittelt. Werden die übrigen notwendigen Haushaltsausgaben berücksichtigt, ergibt sich eine Armutsgrenze von 66.553 TL. Für eine alleinstehende Person liegt diese Grenze bei 26.527 TL. Eine Steigerung des Mindestlohns um 35 Prozent ergäben rund 23.000 TL. Bei einer geschätzten Inflation von 46 Prozent ergäbe ihr Aus- gleich einen Mindestlohn von rund 25.000 TL.
Gewalt gegen Frauen
Nach Angaben der Föderation türkischer Frauenvereine sind im Oktober 2024 bei der Notrufleitung zu innerfamiliärer Gewalt aus 31 Städten 475 Anrufe eingegangen. Von 99 Gewaltfällen erwiesen sich 78 als innerfamiliäre Gewalt, 48 Frauen erlitten Gewalt durch ihre Männer. Zu- gleich vergeht kaum ein Tag ohne die Meldung, dass eine Frau auf offener Straße ermordet wird. Angaben des Innenministeriums zufolge waren es 276 Frauen von Januar bis Oktober 2024. Täter sind meist abgewiesene Liebhaber oder geschiedene Ehemänner. Weiter gibt das Innenministerium an, dass gegen 162.897 Männer Maßnahmen verhängt wurden, um Gewalt zu verhindern und 44.393 Frauen unter Schutz gestellt wurden.
Am 25. November 2024, dem internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen, wurden landesweit Demonstrationen und Kundgebungen durchgeführt. In Istanbul wurde die geplante Kundgebung auf dem Taksim Platz durch den Provinzgouverneur verboten. Um das Verbot durchzusetzen wurde der ganze Stadtbezirk abgesperrt und der öffentliche Nahverkehr unterbrochen. Mehr als 100 Personen wurden festgenommen, weil sie sich nicht an der Kundgebungsverbot halten wollten. Eine der Forderungen war die Rückkehr zur Istanbul-Konvention des Euro- parates zur Verhütung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt. Im März 2020 hatte Staatspräsident Erdoğan durch eine Präsidialverordnung den Austritt aus dieser Konvention beschlossen, die eine ganzheitliche Strategie auch zur Prävention von Gewalt vorsieht. Zwar gibt es noch das Gesetz Nr. 6284, das einen umfassenden Schutz für Frauen vor Gewalt vorsieht, doch kritisieren Frauenverbände, dass nicht nur die Prävention von Gewalt einen Rückschlag erlitten habe, sondern auch die Anwendung des Schutzgesetzes.
Die Türkei strebt eine Mitgliedschaft in BRICS an, dem Bündnis der aufstrebenden Volkswirtschaften, das sich als Gegenpol zu westlich dominierten Formaten wie der G20 positioniert. Auf dem Gipfel im Oktober in Kasan wurde ihr jedoch nur der Status eines Kooperationspartners eingeräumt. Zugleich vertieft die Türkei Gespräche mit Griechenland zur Lösung der Ägäis-Konflikte, während die Lage in Syrien unübersichtlich bleibt.
BRICS Kandidatur
BRICS wird als Gegenentwurf zum westlich dominierten G20 aufgefasst und ist eine Kooperation, die zunächst aus Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika bestand. 2024 kamen noch Ägypten, Äthiopien, die Vereinigten Emirate und der Iran hinzu. Zahlreiche weitere Länder, darunter auch die Türkei, bemühen sich um die Aufnahme. Beim jüngsten Gipfel vom 22.-24. Oktober im russischen Kasan wurde jedoch keine Erweiterungsentscheidung getroffen, sondern Ländern wie der Türkei der Status von Kooperationspartnern gegeben. Zugleich zeigt die Teilnahme von 36 Staaten, darunter 20 Staatschefs, die Ausstrahlung der Plattform.
Zu den Zielen des angestrebten BRICS-Beitritts gibt es keine offiziellen Aussagen. Außenminister Fidan erklärte, dass die Westorientierung und beispielsweise der EU- Beitrittsprozess nicht alternativ zu BRICS verstanden werden sollten. Gleichwohl erklärte Staatspräsident Erdoğan, dass die Türkei die Suche nach Alternativen nicht nötig hätte, wenn die EU den Beitrittsprozess nicht blockieren würde.
Gespräche mit Griechenland über Seegrenze in der Ägäis
Die türkisch-griechischen Beziehungen haben sich in den vergangenen zwei Jahren bedeutend verbessert. Gehörten Scheinattacken griechischer und türkischer Kampfflugzeuge oder auch die türkische Drohung Erdgassondierungen vor Zypern durch Kriegsschiffe zu verhindern, zum Alltag, so hat sich die Lage inzwischen entspannt. Auch im Hinblick auf irregulärer Migration in der Ägäis und an der türkisch-griechischen Landgrenze hat die Türkei ihre Bemühungen zur Eindämmung intensiviert.
Anfang November betonten die Außenminister Griechenlands und der Türkei, dass sie die Konflikte um den Grenzverlauf in der Ägäis lösen möchten, um eine nachhaltige Entspannung zu erreichen. Allerdings bleibt unklar, inwieweit beide Seiten zu Zugeständnissen bereit sind, da bisher keine konkreten Details über mögliche Kompromisse bekanntgegeben wurden.
Derzeit wird nicht nur von Griechenland, sondern auch der EU der Türkei nahezu kein Hoheitsgewässer in der Ägäis zugestanden. Die Maritime Spatial Planing (MSP) der EU verwendet für ihre Planung zum Schutz der Biodiversität in der Ägäis beispielsweise die oben gezeigte Karte.
Wie leicht zu erkennen ist, werden türkische Interessen bei dieser Grenzziehung weitgehend ausgespart. Auf der anderen Seite sieht das Seerecht grundsätzlich vor, dass überlappende Ansprüche auf Seegebiete zwischen Anrainerstaaten in Übereinkunft geklärt werden sollen. Da in beiden Ländern die Frage der Seegrenze einen hohen emotionalen Stellenwert hat und auch mit wirtschaftlichen Interessen verknüpft sind, wird sich die Frage des Grenzverlaufs vermutlich nur über ein Schiedsstellenverfahren beim internationalen Seegerichtshof klären lassen. Um den Konflikt zu beenden, dürfte es dabei darauf an- kommen, ob sich beide Parteien im Vorhinein bereit erklären, sich dem Schiedsspruch zu unterwerfen.
Neuanfang in Syrien
Am 8. Dezember 2024 gab der syrische Ministerpräsident Gazi El Jelali bekannt, dass Baschar Assad das Land verlassen habe und er bereit sei, bis zur Übernahme die Regierungsgeschäfte zu leiten. In nur zwölf Tagen war die 61jährige Assad-Herrschaft in Syrien nach elf Jahren Bürgerkrieg zusammengebrochen. Ob es nun zu einer schnellen Regierungsbildung unter Führung der islamistischen Miliz Hay‘at Tahrir al-Sham (HTS) kommt bleibt offen.
Die türkische Regierung nahm den Sturz Assads mit Befriedigung auf. Regierungskreise wiesen darauf hin, dass es für Assad wohl besser gewesen wäre, wenn er vor einigen Monaten auf die Angebote der Türkei eingegangen wäre, die bilateralen Beziehungen zu normalisieren. Ob dies das Regime verlängert hätte und ob dies im Interesse der Türkei gewesen wäre, bleibt dabei ungewiss.
Die Türkei verfolgte mit ihrer Normalisierungspolitik zwei Ziele. Zum einen ist die Akzeptanz für die knapp drei Millionen syrischen Flüchtlinge stark geschwunden. Zum anderen will die türkische Regierung die kurdischen Selbstverwaltungsstrukturen in Nordost-Syrien zerschlagen. Erklärungen türkischer Politiker, dass die Syrer:innen nach dem Sturz des Assad-Regimes zurückkehren könnten, dürften jedoch wenig Bezug zur Realität haben. Erstens bleibt unklar, wann und ob sich die Lage in Syrien stabilisieren wird. Zweitens stellt sich die Frage, wohin die Menschen überhaupt zurückkehren könnten. Der Bürgerkrieg hat große Zerstörungen hinterlassen, Millionen von Binnenflüchtlingen haben längst die früheren Wohnungen der Flüchtlinge besetzt. Brände wie der im Migrations- und Passgebäude oder auch in Gerichten in Damaskus bei der Einnahme der Stadt durch die bewaffnete Organisation werfen ein Schlaglicht auf die Herausforderungen. Selbst wenn kurzfristig wieder Verwaltungsstrukturen in Syrien aufgebaut werden können und die neuen Machthaber an einer Rückkehr der Geflüchteten interessiert sind, werden Fragen von Staatsbürgerschaft bis Eigentum kompliziert.
Welche Rolle die kurdische PYD in einem neuen Syrien spielen wird, bleibt offen. Dass sie eine Rolle spielen wird, wirkt angesichts der US-Unterstützung wahrscheinlich. Auf der anderen Seite stellt sich absehbar auch die Frage nach der Zukunft der von der Türkei kontrollierten Gebiete in Nord-Syrien.
Deutsch-türkische Beziehungen: Fokus auf Sicherheit und Wirtschaft
Beim jüngsten Besuch von Bundeskanzler Olaf Scholz in Ankara standen sicherheitspolitische und wirtschaftliche Themen im Vordergrund. Besonders brisant waren die Gespräche über die mögliche Lieferung von Eurofighter-Kampfflugzeugen an die Türkei, die ihre Luftstreitkräfte modernisieren möchte. Ein potenzieller Deal würde die sicherheits- politische Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern vertiefen und die Position der Türkei als NATO-Partner stärken.
Neben den Rüstungsgesprächen betonten beide Seiten die Bedeutung wirtschaftlicher Stabilität und Handelsbeziehungen. Deutschland bleibt der wichtigste Handelspartner der Türkei, und die enge wirtschaftliche Kooperation soll trotz geopolitischer Spannungen fortgesetzt werden.
Der Besuch verdeutlichte die strategische Bedeutung der Türkei für Europa und die NATO. Die Partnerschaft bleibt jedoch ein Balanceakt, bei dem Sicherheits- und Wirtschaftsinteressen Vorrang haben. Ob ein Rüstungsdeal zustande kommt, bleibt offen – doch die Gespräche zeigen den gemeinsamen Willen zur Vertiefung der Zusammenarbeit.
Aktuelle Ausgabe als pdf herunterladen
Liste der bisherigen Ausgaben
Istanbul Office+90 212 310 82 37+90 212 258 70 91
Ankara Office+90 312 441 85 96
contact.TR(at)fes.de
Sign up to our Newsletter
This site uses third-party website tracking technologies to provide and continually improve our services, and to display advertisements according to users' interests. I agree and may revoke or change my consent at any time with effect for the future.
These technologies are required to activate the core functionality of the website.
This is an self hosted web analytics platform.
Data Purposes
This list represents the purposes of the data collection and processing.
Technologies Used
Data Collected
This list represents all (personal) data that is collected by or through the use of this service.
Legal Basis
In the following the required legal basis for the processing of data is listed.
Retention Period
The retention period is the time span the collected data is saved for the processing purposes. The data needs to be deleted as soon as it is no longer needed for the stated processing purposes.
The data will be deleted as soon as they are no longer needed for the processing purposes.
These technologies enable us to analyse the use of the website in order to measure and improve performance.
This is a video player service.
Processing Company
Google Ireland Limited
Google Building Gordon House, 4 Barrow St, Dublin, D04 E5W5, Ireland
Location of Processing
European Union
Data Recipients
Data Protection Officer of Processing Company
Below you can find the email address of the data protection officer of the processing company.
https://support.google.com/policies/contact/general_privacy_form
Transfer to Third Countries
This service may forward the collected data to a different country. Please note that this service might transfer the data to a country without the required data protection standards. If the data is transferred to the USA, there is a risk that your data can be processed by US authorities, for control and surveillance measures, possibly without legal remedies. Below you can find a list of countries to which the data is being transferred. For more information regarding safeguards please refer to the website provider’s privacy policy or contact the website provider directly.
Worldwide
Click here to read the privacy policy of the data processor
https://policies.google.com/privacy?hl=en
Click here to opt out from this processor across all domains
https://safety.google/privacy/privacy-controls/
Click here to read the cookie policy of the data processor
https://policies.google.com/technologies/cookies?hl=en
Storage Information
Below you can see the longest potential duration for storage on a device, as set when using the cookie method of storage and if there are any other methods used.
This service uses different means of storing information on a user’s device as listed below.
This cookie stores your preferences and other information, in particular preferred language, how many search results you wish to be shown on your page, and whether or not you wish to have Google’s SafeSearch filter turned on.
This cookie measures your bandwidth to determine whether you get the new player interface or the old.
This cookie increments the views counter on the YouTube video.
This is set on pages with embedded YouTube video.
This is a service for displaying video content.
Vimeo LLC
555 West 18th Street, New York, New York 10011, United States of America
United States of America
Privacy(at)vimeo.com
https://vimeo.com/privacy
https://vimeo.com/cookie_policy
This cookie is used in conjunction with a video player. If the visitor is interrupted while viewing video content, the cookie remembers where to start the video when the visitor reloads the video.
An indicator of if the visitor has ever logged in.
Registers a unique ID that is used by Vimeo.
Saves the user's preferences when playing embedded videos from Vimeo.
Set after a user's first upload.
This is an integrated map service.
Gordon House, 4 Barrow St, Dublin 4, Ireland
https://support.google.com/policies/troubleshooter/7575787?hl=en
United States of America,Singapore,Taiwan,Chile
http://www.google.com/intl/de/policies/privacy/