15.12.2022

Visionen für die Türkei: grüner Wandel, gerechte Verteilung?

Auf dem Weg in ihr zweites Jahrhundert steht die Türkei vor immensen Herausforderungen. Armut und Ungleichheit verschärfen sich weiter. Die Medienfreiheit wird durch ein neues Gesetz weiter eingeschränkt. In der Klimapolitik bleibt die Türkei nicht nur auf der COP27 hinter ihren Möglichkeiten zurück. Und innenpolitisch rumort es. Was für Antworten finden die politischen Parteien auf die drängendsten Probleme der Republik vor den Wahlen?

Green Deal in der Türkei?

Mit Spannung wurde die Aktualisierung der Nationalen Klimaschutzbeiträge (Nationally determined contributions, NDC) der Türkei beim Klimagipfel im ägyptischen Scharm el-Scheikh im November erwartet. Nach mehrjähriger Wartezeit hatte die Türkei im letzten Jahr das Pariser Abkommen ratifiziert. Die selbst gesetzten Nationalen Klimaschutzziele waren 2021 wenig ambitioniert, die türkische Regierung hatte aber Verbesserungen zugesagt. Die auf der Weltklimakonferenz COP 27 von Umweltminister Murat Kurum verkündeten Klimaschutzverpflichtungen stellten jedoch nur eine bescheidene Anpassung der ursprünglichen Ziele dar.

 

Türkische Umweltorganisationen hatten gefordert, dass sich die Türkei über eine bloße Begrenzung des Anstiegs der Emissionen hinaus die absolute Reduktion von Treibhausgasemissionen zum Ziel setzen sollte. Minister Kurum sagte lediglich zu, dass die Türkei bis 2030 den Anstieg um 32 Prozent statt wie bisher zugesagt um 21 Prozent verringern werde. Eine tatsächliche Netto-Reduktion der Emissionen sei nicht im Interesse der Türkei, die schließlich das eigene wirtschaftliche Entwicklungsniveau auf das der Industrienationen verbessern wolle. Diese wiederum trügen die Hauptverantwortung für die derzeitige Klimakrise. Zudem würden sich die Treibhausgasemissionen der Türkei im Jahr 2030 immer noch unter denen Deutschlands bewegen, das sich zu einer absoluten Reduktion verpflichtet habe.

De Facto wird die derzeitige Verpflichtung der türkischen Regierung also dazu führen, dass die Treibhausgasemissionen bis 2038 weiter ansteigen werden. Eine Abkehr von der Kohlepolitik wurde nicht angekündigt.

Mitreden, aber nicht unbedingt mitmachen

Blickt man auf das Jahr nach der Ratifizierung des Paris-Abkommens 2021 zurück, ist es der Türkei zwar gelungen, sich in die weitere Ausgestaltung des Abkommens einzubringen. Doch im Hinblick auf eine Politik gegen den Klimawandel ist in der Türkei wenig geschehen. In verschiedenen Ministerien werden zwar Pläne ausgearbeitet, wie das Ziel der Klimaneutralität bis 2053 erreicht werden soll. Es existiert auch bereits eine Strategie und ein Aktionsplan 2010-2023 zum Klimawandel, allerdings mit wenig ambitionierten Zielen: Bis 2023 sollen zum Beispiel eine Million Wohngebäude über eine standardgemäße Wärmedämmung verfügen - das entspricht aber nicht einmal der Zahl von Gebäuden, die in diesem Zeitraum ohnehin neu errichtet werden.

Der Climate Change Performance Index (CCPI) stufte in seinem diesjährigen Bericht die Türkei um 6 Ränge schlechter als im Vorjahr ein. Mit Rang 47 liegt sie im Feld der Länder mit geringer Klimaschutzleistung. Ausschlaggebend für das schlechte Rating ist die Bewertung der Klimapolitik mit nahezu Null. Im Bereich erneuerbare Energien befindet sich die Türkei dagegen auf einem relativ guten Niveau. Bei Treibhausgasemissionen und Energieverbrauch schneidet sie wiederum schlecht ab, auch wenn Ausstoß und Verbrauch pro Kopf vergleichsweise gering sind. Bei den derzeitigen Zielen und Maßnahmen der Türkei würde der Anstieg der Emissionen laut der NGO Climate Action Tracker mit einer Erwärmung von mehr als 4°C einhergehen – anstatt diese auf unter 2°C zu begrenzen.

Trotz guter Voraussetzungen im Bereich erneuerbarer Energien - die Türkei verfügt über reichlich Wind und Sonnenschein sowie Flächen für Wind- und Solarkraftwerke – bleibt die türkische Wirtschaftspolitik einem Wachstumsmodell verhaftet, das auf kurzfristige Erfolge setzt und sich an den Interessen einzelner Wirtschaftssektoren orientiert. So entwickelte sich die Bauwirtschaft von 2010-2020 zu einem wichtigen Motor des Wirtschaftswachstums, während die Modernisierung der Industrie nur langsam voranschritt. Die Entscheidung für die Förderung von Kohle als Energieträger wurde mit dem Argument vertreten, dass dies zu einer enormen Verringerung der Importe führen würde. Von der Opposition wird jedoch der Vorwurf erhoben, dass diese Entscheidungen vor allem die Interessen von der Regierung nahestehenden Unternehmen berücksichtigten.

Umwelt- und Wirtschaftsverbände fordern größere Anstrengungen

In der türkischen Medienöffentlichkeit stellen Umweltzerstörung und Klimaschutz keinen Schwerpunkt dar. Vielerorts gibt es Initiativen und Widerstand gegen die Bedrohung von Wald und Landwirtschaft durch Bergbau und Kraftwerke. Doch in den letzten Jahren reagiert die Regierung zunehmend restriktiv und die Chance der Initiativen, es in die nationalen Medien zu schaffen, ist gering. Dennoch gibt es Erfolge: Kampagnen gegen den Import von Plastikmüll aus Europa haben das Umweltministerium zu einem Verbot solcher Importe veranlasst. Nach dem Widerstand der Plastikindustrie wurde dieses Verbot jedoch wieder aufgeweicht.

Eine ebenfalls bei der Klima-Konferenz vorgestellte Studie der Sabancı-Universität berechnet, dass die Kosten, um 2053 das Ziel von Netto-Null-Emissionen in der Türkei zu erreichen, bis 2030 jährlich 10 Mrd. Dollar betragen würden. Dies entspräche nicht einmal einem Prozent des Bruttosozialproduktes. Das benötigte Investitionsvolumen bei der Stromerzeugung, der eine Schlüsselbedeutung bei der Emissionsreduktion zukommt, betrüge 36,5 Mrd. Dollar. Durch die Einsparung des Imports fossiler Brennstoffe würden die Netto-Kosten sogar auf 29 Mrd. Dollar sinken. Beim Verkehr würde der Übergang zu schienengestützten Systemen und Elektrofahrzeugen 12,5 Mrd. Dollar kosten, durch die Reduktion fossiler Treibstoffe jedoch wiederum 2 Mrd. Dollar eingespart.

Das bescheidene Klimaziel der Regierung lässt außer Acht, dass mit den erforderlichen Investitionen nicht nur Tausende von Arbeitsplätzen geschaffen werden könnten, sondern zugleich auch die türkische Wirtschaft eine Modernisierung durchliefe, die sie international wettbewerbsfähiger machen würde. Und die Umstellung auf erneuerbare Energien würde einen Beitrag zur Lösung des chronischen Zahlungsbilanzdefizits leisten.

Deutlich wird diese Ambivalenz auch in der Haltung der türkischen Wirtschaft. Die Wirtschaftszeitung Dünya berichtete über den 17. Wettbewerbskongress unter Beteiligung von Geschäftsleuten, Akademiker_innen und Beamt_innen. Das Motto des Kongresses war der „doppelte Wandel“: Digitaler Wandel und Maßnahmen gegen den Klimawandel zur Wahrung der Wettbewerbsfähigkeit. Die Vorsitzenden führender türkischer Wirtschaftsverbände wie TÜSIAD und Türkonfed betonten, dass der doppelte Wandel für alle – vom kleinsten bis zum größten Unternehmen – eine Notwendigkeit sei. Schaut man in eine ebenfalls von der Dünya veröffentlichte Umfrage unter anatolischen Unternehmen, geben allerdings nur 23,7 Prozent der Unternehmen an, über eine Strategie zum Klimawandel zu verfügen. 47 Prozent schätzten ihre Vorbereitung als „teilweise“ ein, 29,3 Prozent gaben an, über keine Strategie zu verfügen.

Gemischte Perspektive

Der Kolumnist Şerif Oğuz stellt einem Beitrag zum Klimagipfel in der Dünya fest, dass nicht nur Länder wie die Türkei, die für ihre säumige Haltung kritisiert werden, eigene Interessen verfolgen, sondern auch die Wortführer für mehr Klimaschutz. Diese Interessendurchsetzung könne man auch als Diktat von Wettbewerbsbedingungen verstehen. Demgegenüber verweist er darauf, dass die Türkei im Hinblick auf grüne Technologien bei weitem kein Entwicklungsland sei. So ist es der türkischen Industrie gelungen, den Anteil eigener Komponenten bei Windkraftanlagen auf 70 Prozent zu steigern, mit einem Beschäftigungseffekt von 30.000 Arbeitsplätzen. Bei der Sonnenenergie dagegen bestehe Bedarf an mehr Kooperation, wenn es nicht bei der reinen Montage von Zellen bleiben solle.

Bei der Großindustrie und der Exportwirtschaft besteht eine große Bereitschaft, sich auf eine offensivere Klimapolitik einzustellen. Doch solange eine solche Politik von den Parteien nicht als Priorität betrachtet wird, fehlt der Rahmen, um die Potenziale der Türkei bei der Bekämpfung des Klimawandels zu mobilisieren. Stattdessen droht eine Verschärfung der Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen, sollte die Türkei den Vorschlag des russischen Präsidenten Putin umsetzen und ein Drehkreuz für Gasexporte nach Europa werden. In der Energiepolitik bindet Russland die Türkei zudem über den Bau und künftigen Betrieb des Atomkraftwerks Akkuyu durch den russischen Konzern Rosatom weiter an sich.

Die Kommunalpolitik ist in ihren Klimaschutzplänen da schon weiter. Anfang 2022 legte die Großstadt Istanbul ihren Aktionsplan zum Klimawandel vor, der vom Metropolen-Netzwerk C40 als erster Aktionsplan einer türkischen Stadt besonders gewürdigt wurde. Neben der direkten Bekämpfung des Klimawandels geht es in dieser Strategie darum, die Stadt sicherer vor den Auswirkungen des Klimawandels zu machen. Während also auf der einen Seite erneuerbare Energien, Kreislaufwirtschaft und die Ausweitung von Grünflächen zur Absorbierung von Treibhausgasen als konkrete Maßnahmen für eine CO2-neutrale Stadt in 2050 formuliert werden, geht es zum anderen auch darum, die Stadt sicherer gegen extreme Wetterereignisse zu machen.

Doch so wichtig angesichts der Bevölkerungszahl und wirtschaftlichen Bedeutung Istanbuls ein solcher Plan ist, so führen Reibereien zwischen Zentralregierung und Großstadtverwaltung oft dazu, dass solche Projekte aufgeschoben oder verlangsamt werden. Auch eine Metropole wie Istanbul kann eine nationale Klimapolitik nicht ersetzen.

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Wirtschaft und Soziales

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Aus unserer Arbeit

Martin Schulz besucht Türkei: Der FES-Vorsitzende und ehemalige Präsident des Europäischen Parlaments Martin Schulz besuchte vom 30.11.-2.12.2022 die Türkei, um sich ein Bild von der aktuellen politischen Lage zu machen. In Istanbul diskutierte er mit dem CHP-Vorsitzenden Kemal Kılıçdaroğlu auf einem Panel zu Fragen des Sozialstaates. In Istanbul und Ankara führte Martin Schulz im Anschluss Gespräche mit weiteren Politiker_innen und NGO-Vertreter_innen. Und besuchte natürlich das FES-Team im frisch renovierten Büro in Istanbul!

IPG-Artikel: „Tanz auf allen Hochzeiten“ (22.11.2022)
Henrik Meyer, Landesvertreter der FES Türkei, setzt sich in seinem Artikel mit der flexiblen Bündniswahl der Türkei auseinander. Er stellt fest: Die Bündnisvielfalt ermöglicht es dem türkischen Präsidenten, die eigenen außenpolitischen Interessen bestmöglich durchzusetzen. Die fluide Bündnispolitik und hybriden Partnerschaften der Türkei seien auch Ausdruck einer veränderten Weltordnung.

In dem Tagesschau-BeitragTätersuche als Wahlkampfmanöver? (19.11.2022) sowie im rbb24-InforadioAnschlag in Istanbul - cui bono? (14.11.2022) gibt Henrik Meyer eine Einschätzung dazu, welche Rolle der Anschlag in Istanbul am 13.11.2022 für den anstehenden Wahlkampf spielen könnte.

FES-Studie „Wer sitzt (nicht) im Parlament?“
Die Studie von Lea Elsässer und Armin Schäfer zur sozialen Repräsentativität von Parlamenten in fünf Ländern zeigt: Auch im türkischen Parlament sind junge Menschen, Arbeiter_innen und Frauen stark unterrepräsentiert. Der Anteil von Unternehmer_innen und Selbstständigen ist im Vergleich hingegen wesentlich höher. Die Studie ist auf Deutsch und Türkisch verfügbar.  

Just Transition in der Türkei: Gemeinsam mit IndustriALL Global und IndustriALL Europe organisierte die FES Türkei einen Workshop zum Thema Just Transition. Informationen und Forderungen von Industriebeschäftigten zu einem gerechten Strukturwandel stehen jetzt u.a. auf Deutsch und Türkisch zur Verfügung.

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