Auf dem Weg in ihr zweites Jahrhundert steht die Türkei vor immensen Herausforderungen. Armut und Ungleichheit verschärfen sich weiter. Die Medienfreiheit wird durch ein neues Gesetz weiter eingeschränkt. In der Klimapolitik bleibt die Türkei nicht nur auf der COP27 hinter ihren Möglichkeiten zurück. Und innenpolitisch rumort es. Was für Antworten finden die politischen Parteien auf die drängendsten Probleme der Republik vor den Wahlen?
Mit Spannung wurde die Aktualisierung der Nationalen Klimaschutzbeiträge (Nationally determined contributions, NDC) der Türkei beim Klimagipfel im ägyptischen Scharm el-Scheikh im November erwartet. Nach mehrjähriger Wartezeit hatte die Türkei im letzten Jahr das Pariser Abkommen ratifiziert. Die selbst gesetzten Nationalen Klimaschutzziele waren 2021 wenig ambitioniert, die türkische Regierung hatte aber Verbesserungen zugesagt. Die auf der Weltklimakonferenz COP 27 von Umweltminister Murat Kurum verkündeten Klimaschutzverpflichtungen stellten jedoch nur eine bescheidene Anpassung der ursprünglichen Ziele dar.
Türkische Umweltorganisationen hatten gefordert, dass sich die Türkei über eine bloße Begrenzung des Anstiegs der Emissionen hinaus die absolute Reduktion von Treibhausgasemissionen zum Ziel setzen sollte. Minister Kurum sagte lediglich zu, dass die Türkei bis 2030 den Anstieg um 32 Prozent statt wie bisher zugesagt um 21 Prozent verringern werde. Eine tatsächliche Netto-Reduktion der Emissionen sei nicht im Interesse der Türkei, die schließlich das eigene wirtschaftliche Entwicklungsniveau auf das der Industrienationen verbessern wolle. Diese wiederum trügen die Hauptverantwortung für die derzeitige Klimakrise. Zudem würden sich die Treibhausgasemissionen der Türkei im Jahr 2030 immer noch unter denen Deutschlands bewegen, das sich zu einer absoluten Reduktion verpflichtet habe.
De Facto wird die derzeitige Verpflichtung der türkischen Regierung also dazu führen, dass die Treibhausgasemissionen bis 2038 weiter ansteigen werden. Eine Abkehr von der Kohlepolitik wurde nicht angekündigt.
Blickt man auf das Jahr nach der Ratifizierung des Paris-Abkommens 2021 zurück, ist es der Türkei zwar gelungen, sich in die weitere Ausgestaltung des Abkommens einzubringen. Doch im Hinblick auf eine Politik gegen den Klimawandel ist in der Türkei wenig geschehen. In verschiedenen Ministerien werden zwar Pläne ausgearbeitet, wie das Ziel der Klimaneutralität bis 2053 erreicht werden soll. Es existiert auch bereits eine Strategie und ein Aktionsplan 2010-2023 zum Klimawandel, allerdings mit wenig ambitionierten Zielen: Bis 2023 sollen zum Beispiel eine Million Wohngebäude über eine standardgemäße Wärmedämmung verfügen - das entspricht aber nicht einmal der Zahl von Gebäuden, die in diesem Zeitraum ohnehin neu errichtet werden.
Der Climate Change Performance Index (CCPI) stufte in seinem diesjährigen Bericht die Türkei um 6 Ränge schlechter als im Vorjahr ein. Mit Rang 47 liegt sie im Feld der Länder mit geringer Klimaschutzleistung. Ausschlaggebend für das schlechte Rating ist die Bewertung der Klimapolitik mit nahezu Null. Im Bereich erneuerbare Energien befindet sich die Türkei dagegen auf einem relativ guten Niveau. Bei Treibhausgasemissionen und Energieverbrauch schneidet sie wiederum schlecht ab, auch wenn Ausstoß und Verbrauch pro Kopf vergleichsweise gering sind. Bei den derzeitigen Zielen und Maßnahmen der Türkei würde der Anstieg der Emissionen laut der NGO Climate Action Tracker mit einer Erwärmung von mehr als 4°C einhergehen – anstatt diese auf unter 2°C zu begrenzen.
Trotz guter Voraussetzungen im Bereich erneuerbarer Energien - die Türkei verfügt über reichlich Wind und Sonnenschein sowie Flächen für Wind- und Solarkraftwerke – bleibt die türkische Wirtschaftspolitik einem Wachstumsmodell verhaftet, das auf kurzfristige Erfolge setzt und sich an den Interessen einzelner Wirtschaftssektoren orientiert. So entwickelte sich die Bauwirtschaft von 2010-2020 zu einem wichtigen Motor des Wirtschaftswachstums, während die Modernisierung der Industrie nur langsam voranschritt. Die Entscheidung für die Förderung von Kohle als Energieträger wurde mit dem Argument vertreten, dass dies zu einer enormen Verringerung der Importe führen würde. Von der Opposition wird jedoch der Vorwurf erhoben, dass diese Entscheidungen vor allem die Interessen von der Regierung nahestehenden Unternehmen berücksichtigten.
In der türkischen Medienöffentlichkeit stellen Umweltzerstörung und Klimaschutz keinen Schwerpunkt dar. Vielerorts gibt es Initiativen und Widerstand gegen die Bedrohung von Wald und Landwirtschaft durch Bergbau und Kraftwerke. Doch in den letzten Jahren reagiert die Regierung zunehmend restriktiv und die Chance der Initiativen, es in die nationalen Medien zu schaffen, ist gering. Dennoch gibt es Erfolge: Kampagnen gegen den Import von Plastikmüll aus Europa haben das Umweltministerium zu einem Verbot solcher Importe veranlasst. Nach dem Widerstand der Plastikindustrie wurde dieses Verbot jedoch wieder aufgeweicht.
Eine ebenfalls bei der Klima-Konferenz vorgestellte Studie der Sabancı-Universität berechnet, dass die Kosten, um 2053 das Ziel von Netto-Null-Emissionen in der Türkei zu erreichen, bis 2030 jährlich 10 Mrd. Dollar betragen würden. Dies entspräche nicht einmal einem Prozent des Bruttosozialproduktes. Das benötigte Investitionsvolumen bei der Stromerzeugung, der eine Schlüsselbedeutung bei der Emissionsreduktion zukommt, betrüge 36,5 Mrd. Dollar. Durch die Einsparung des Imports fossiler Brennstoffe würden die Netto-Kosten sogar auf 29 Mrd. Dollar sinken. Beim Verkehr würde der Übergang zu schienengestützten Systemen und Elektrofahrzeugen 12,5 Mrd. Dollar kosten, durch die Reduktion fossiler Treibstoffe jedoch wiederum 2 Mrd. Dollar eingespart.
Das bescheidene Klimaziel der Regierung lässt außer Acht, dass mit den erforderlichen Investitionen nicht nur Tausende von Arbeitsplätzen geschaffen werden könnten, sondern zugleich auch die türkische Wirtschaft eine Modernisierung durchliefe, die sie international wettbewerbsfähiger machen würde. Und die Umstellung auf erneuerbare Energien würde einen Beitrag zur Lösung des chronischen Zahlungsbilanzdefizits leisten.
Deutlich wird diese Ambivalenz auch in der Haltung der türkischen Wirtschaft. Die Wirtschaftszeitung Dünya berichtete über den 17. Wettbewerbskongress unter Beteiligung von Geschäftsleuten, Akademiker_innen und Beamt_innen. Das Motto des Kongresses war der „doppelte Wandel“: Digitaler Wandel und Maßnahmen gegen den Klimawandel zur Wahrung der Wettbewerbsfähigkeit. Die Vorsitzenden führender türkischer Wirtschaftsverbände wie TÜSIAD und Türkonfed betonten, dass der doppelte Wandel für alle – vom kleinsten bis zum größten Unternehmen – eine Notwendigkeit sei. Schaut man in eine ebenfalls von der Dünya veröffentlichte Umfrage unter anatolischen Unternehmen, geben allerdings nur 23,7 Prozent der Unternehmen an, über eine Strategie zum Klimawandel zu verfügen. 47 Prozent schätzten ihre Vorbereitung als „teilweise“ ein, 29,3 Prozent gaben an, über keine Strategie zu verfügen.
Der Kolumnist Şerif Oğuz stellt einem Beitrag zum Klimagipfel in der Dünya fest, dass nicht nur Länder wie die Türkei, die für ihre säumige Haltung kritisiert werden, eigene Interessen verfolgen, sondern auch die Wortführer für mehr Klimaschutz. Diese Interessendurchsetzung könne man auch als Diktat von Wettbewerbsbedingungen verstehen. Demgegenüber verweist er darauf, dass die Türkei im Hinblick auf grüne Technologien bei weitem kein Entwicklungsland sei. So ist es der türkischen Industrie gelungen, den Anteil eigener Komponenten bei Windkraftanlagen auf 70 Prozent zu steigern, mit einem Beschäftigungseffekt von 30.000 Arbeitsplätzen. Bei der Sonnenenergie dagegen bestehe Bedarf an mehr Kooperation, wenn es nicht bei der reinen Montage von Zellen bleiben solle.
Bei der Großindustrie und der Exportwirtschaft besteht eine große Bereitschaft, sich auf eine offensivere Klimapolitik einzustellen. Doch solange eine solche Politik von den Parteien nicht als Priorität betrachtet wird, fehlt der Rahmen, um die Potenziale der Türkei bei der Bekämpfung des Klimawandels zu mobilisieren. Stattdessen droht eine Verschärfung der Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen, sollte die Türkei den Vorschlag des russischen Präsidenten Putin umsetzen und ein Drehkreuz für Gasexporte nach Europa werden. In der Energiepolitik bindet Russland die Türkei zudem über den Bau und künftigen Betrieb des Atomkraftwerks Akkuyu durch den russischen Konzern Rosatom weiter an sich.
Die Kommunalpolitik ist in ihren Klimaschutzplänen da schon weiter. Anfang 2022 legte die Großstadt Istanbul ihren Aktionsplan zum Klimawandel vor, der vom Metropolen-Netzwerk C40 als erster Aktionsplan einer türkischen Stadt besonders gewürdigt wurde. Neben der direkten Bekämpfung des Klimawandels geht es in dieser Strategie darum, die Stadt sicherer vor den Auswirkungen des Klimawandels zu machen. Während also auf der einen Seite erneuerbare Energien, Kreislaufwirtschaft und die Ausweitung von Grünflächen zur Absorbierung von Treibhausgasen als konkrete Maßnahmen für eine CO2-neutrale Stadt in 2050 formuliert werden, geht es zum anderen auch darum, die Stadt sicherer gegen extreme Wetterereignisse zu machen.
Doch so wichtig angesichts der Bevölkerungszahl und wirtschaftlichen Bedeutung Istanbuls ein solcher Plan ist, so führen Reibereien zwischen Zentralregierung und Großstadtverwaltung oft dazu, dass solche Projekte aufgeschoben oder verlangsamt werden. Auch eine Metropole wie Istanbul kann eine nationale Klimapolitik nicht ersetzen.
Die klimapolitischen Diskussionen um die COP27 wurden von den turbulenten innenpolitischen Entwicklungen allerdings schnell wieder von der Tagesordnung gedrängt. Im Gegensatz zu früher gelingt es den in einem Bündnis zusammengeschlossenen Oppositionsparteien immer wieder, die Richtung der politischen Tagesordnung zu bestimmen. Gleichwohl bleiben die Erfolge gemischt. Der Vorstoß, mit dem der CHP-Vorsitzende Kılıçdaroğlu die Regierung für die Zunahme des Rauschgiftkonsums verantwortlich machte, löste zwar heftige Reaktionen auf Regierungsseite aus. Gleichwohl ist der von ihm hergestellte Zusammenhang zu kompliziert, um breitere Wählergruppen zu überzeugen. Ausgangspunkt waren die verschiedenen „Vermögensfrieden“, die die Regierung durchgesetzt hatte, um Devisen ins Land zu bringen. Beim Vermögensfrieden wird nicht nach der Herkunft von Geldern gefragt, die aus dem Ausland eingeführt werden. Dies hat national und international immer wieder zu dem Verdacht geführt, dass diese Bestimmung zur Geldwäsche genutzt und damit der organisierten Kriminalität Vorschub geleistet werden könnte.
Die ebenfalls von Kılıçdaroğlu initiierte Kopftuch-Debatte scheint dagegen langfristigere Wirkung zu haben. Vermutlich mit dem Ziel aufgebracht, konservativ-religiösen Wählerinnen und Wählern Gewissheit zu geben, dass nach einem Wahlsieg der Opposition keine Rückkehr zu den Kopftuchverboten der 1990er Jahre erfolgen würde, brachte die CHP einen Gesetzesentwurf ins Parlament ein, mit dem jeder Eingriff in die Freiheit, seinen Kleidungsstil selbst zu wählen, verboten werden sollte. Die AKP griff die Vorlage auf und erklärte, dass eine einfache gesetzliche Absicherung nicht ausreiche, sondern dies in der Verfassung verankert werden müsse. Staatspräsident Erdoğan verband dies allerdings mit dem konservativen Anliegen eines ausgeweiteten „Schutzes der Familie“, der vor allem gegen die Rechte von LGBTQI zielt. Um die Position der größten Oppositionsparteien zu sondieren, schickte die AKP Delegationen zu CHP, HDP und İyi-Partei. Diese lehnten eine Verfassungsänderung per Referendum ab. Um ein Referendum für eine Verfassungsänderung anzustoßen, wird die Zustimmung von 360 Abgeordneten benötigt. Das Regierungsbündnis verfügt über 335 Abgeordnete. Mit den unabhängigen Abgeordneten und den Transfers zwischen den Parteien, die mit dem nahenden Ende der Amtszeit des Parlaments zunehmen, ist jedoch nicht ausgeschlossen, dass die AKP die erforderliche Mehrheit noch aufbringen kann. Für die AKP böte sich dann die Möglichkeit, mit einem konservativen Kernthema den Wahlkampf zu führen.
Die Vorsitzende der İyi-Partei Meral Akşener machte keinen Hehl daraus, dass sie die Kopftuch-Initiative für einen Fehler hielt. Die Debatte lenke zudem von den beiden dringendsten Fragen des Oppositionsbündnisses ab: zum einen die Frage nach dem oder der Präsidentschaftskandidaten/-in, und zum anderen nach einem überzeugenden Wahlprogramm. Bereits im September hatte Kılıçdaroğlu deutlich gemacht, dass er gemeinsamer Präsidentschaftskandidat des Oppositionsbündnisses werden wolle. Meral Akşener reagierte mit der Aussage, dass die Person mit den höchsten Erfolgschancen ausgewählt werden solle. Dies wurde als Absage an Kılıçdaroğlu aufgefasst. Offensichtlich ist, dass ihre Partei den Oberbürgermeister von Ankara, Mansur Yavaş, der bei konservativ-nationalistischen Wähler_innen beliebt ist und wie Akşener früher der MHP angehörte, als Kandidaten vorzöge. Beim Zusammentreffen der Spitzen der verbündeten Parteien im Oktober wurde die Frage vertagt und auf die bisherige Position verwiesen, dass der oder sie Kandidat_in erst mit Einleitung der Wahl bekannt gegeben werde. Für die Bestimmung gemeinsamer Politikinhalte wurden weitere Arbeitsgruppen eingesetzt. Das Taktieren zwischen den ideologisch sehr unterschiedlichen Parteien vermittelt jedoch nicht das Bild von Handlungsfähigkeit und könnte ein schlechtes Vorzeichen für den Wahlkampf sein.
Rund einen Monat nachdem Staatspräsident Erdoğan seine Vision für das zweite Jahrhundert der Türkischen Republik in 2023 vorstellte, präsentierte am 3. Dezember 2022 der CHP-Vorsitzende Kılıçdaroğlu seine Vision für ein neues Jahrhundert. Beide Veranstaltungen wurden als wichtige Vorbereitung auf den kommenden Wahlkampf wahrgenommen und trugen die Züge von Wahlkampfveranstaltungen. Man könnte sich fragen, ob „Vision“ als Titel nicht etwas hoch gegriffen ist. Doch die bevorstehende Wahl ist eine Richtungswahl. Gewinnt das Regierungsbündnis, dürfte es der Opposition schwerfallen, sich von der Niederlage zu erholen. Das Präsidialsystem würde festgeschrieben. Gewinnt die Opposition, so wäre dies auch gleichsam ein Votum für eine Abkehr vom Präsidialsystem. Augenfällig wird dies allein schon beim Aufbau beider Veranstaltungen: Während Staatspräsident Erdoğan bei seiner Visionsveranstaltung der alleinige Redner war, setzte der CHP-Vorsitzende Kılıçdaroğlu auf ein Team von Rednerinnen und Rednern, deren Kompetenz auf ihrem jeweiligen Gebiet unumstritten ist.
Mit der CHP-Generalsekretärin Sayek Böke, der Sozialpolitikerin Hacer Foggo und dem Wirtschaftspolitiker Faik Öztrak traten bei der Veranstaltung profilierte CHP-Politiker_innen auf. Die Ökonomen Ali Hakan Kara und Refet S. Gürkaynak sind prominente Kritiker der aktuellen Geld- und Wirtschaftspolitik. Daron Acemoğlu, Jeremy Rifkin und Ufuk Akçiğit lehren in den USA. Acemoğlu genießt mit seinen Arbeiten über Demokratie als Voraussetzung für nachhaltige Wirtschaftsentwicklung Weltruf. Rifkin, der als Berater Kılıçdaroğlus arbeiten wird, war als politischer Berater für industrielle Transformation in China, aber auch für Bundeskanzlerin Merkel tätig. In seiner Eröffnungsrede sprach Kılıçdaroğlu von einem 70-köpfigen Team, mit dem er seine Vision verwirklichen will. Und er hob die Kooperation mit den sechs Oppositionsparteien hervor. Die Botschaft ist: Wenn es um das Wohl des Landes geht, sind ideologische Unterschiede unwichtig. Er verspricht sowohl mit seiner Bündnispolitik als auch mit seiner Personalauswahl eine “Entpolitisierung der Politik”. Angesichts der starken Polarisierung der vergangenen Jahre kann er damit durchaus ein Bedürfnis der Bevölkerung ansprechen, die weniger Polemik und mehr Ergebnisse sehen will.
Die CHP-Veranstaltung war auch im Hinblick auf zwei weitere Voraussetzungen für einen gelungenen Wahlkampf wichtig. Zum einen wurden Wirtschaftskompetenz und Sozialverantwortung herausgestellt. Zum anderen ließ sie eine Aufbruchstimmung spüren, die bisher fehlte.
Kemal Kılıçdaroğlu sendete in seiner Schlussrede klare politische Botschaften und sprach von drei Kernpunkten: Vertrauen herstellen und Investitionen anziehen. Zurückgeben, was dem Volk gestohlen wurde. Durch kluge Führung die Türkei aus der Krise führen. Dazu benannte er fünf zentrale Politikfelder: die Transformation der Industrie; die Transformation der Arbeit; Energie; Landwirtschaft und Ernährung sowie Beschäftigungsanstieg. Das Leitmotiv von digitalem und grünem Wandel verband er mit gerechter Verteilung. Und schloss mit einem “Lasst uns loslegen”.
Die Präsentation der CHP-Vision für ein neues Jahrhundert folgte dicht auf die Vorstellung des Vorschlags der sechs kooperierenden Oppositionsparteien für eine umfangreiche Verfassungsänderung am 28. November 2022. Die bereits im Februar 2022 vom 6er-Tisch ausgehandelten Prinzipien wurden damit in konkrete Vorschläge für den Verfassungstext umgesetzt. Ziel sind ein gestärktes parlamentarisches System, und damit die Abkehr vom Präsidialsystem, sowie unabhängigere Institutionen.
Die vorgeschlagenen Änderungen enthalten viele Fortschritte im Hinblick auf eine Rückkehr zur Demokratie. Möglicherweise strittige Themen wurden allerdings ausgeklammert. Beispielsweise gibt es keinen Vorschlag zu Kurdisch als Unterrichtssprache oder zur Präambel der bisherigen Verfassung. Unklar bleiben auch Übergangsbestimmungen, die gesetzliche Ausgestaltung (insbesondere des Parteiengesetzes und der parlamentarischen Geschäftsordnung) und das Änderungsverfahren. Keine direkte Antwort gibt der Entwurf zudem auf die Fragen, wie mit den Personalentscheidungen und den neu geschaffenen Ministerien und Institutionen während des Präsidialsystems umgegangen werden soll. Zugleich zeigt sich in dem Entwurf das Aufgreifen von konkreten Erfahrungen der letzten Jahre.
Eine der vorgeschlagenen Änderungen betrifft zum Beispiel die Auswahlbestimmung für Verfassungsrichter_innen. Die neue Bestimmung soll verhindern, dass Richter_innen nach nur kurzer Amtszeit an einem obersten Gericht ans Verfassungsgericht berufen werden können - wie in den letzten zwei Jahren zweimal geschehen.
So wurde im Oktober wurde Muhterem İnce aus dem Parlamentskontingent als neuer Verfassungsrichter gewählt. İnce war zuvor Vize-Innenminister und erst im Sommer als Richter an den Finanzgerichtshof gekommen. Ein ähnliches Verfahren war bereits bei Verfassungsrichter Irfan Fidan angewandt worden, der unmittelbar nach seiner Ernennung an den Kassationsgerichtshof als Kandidat ausgewählt und vom Staatspräsidenten ernannt wurde. Die Berufung zu den obersten Gerichten war jeweils nur eine Formalität, um die richtigen Personen zu Kandidaten für das Verfassungsgericht zu machen. Der Vorgang zeigt, wie sehr die beiden obersten Gerichte politisch beeinflusst sind.
Die insgesamt 15 Richter am türkischen Verfassungsgericht – tatsächlich ist keine einzige Frau darunter - lassen sich in zwei Gruppen unterteilen. Jene, die von Staatspräsident Erdoğan bestimmt oder in jüngerer Zeit vom Parlament gewählt wurden und jene, die noch von Staatspräsident Gül ernannt wurden. Die zweite Gruppe tendiert etwas mehr zur Verteidigung von Freiheitsrechten.
Mit der neuen Ernennung wird der Anteil der unter Erdoğan-Regierungen ernannten Richter im Verfassungsgericht auf 10 zu 5 eingeschätzt. Dies ist von Bedeutung für das Verbotsverfahren gegen die HDP. Für eine Schließung der Partei oder einen Entzug der staatlichen Parteienförderung müssten zehn Richter stimmen.
Am 11. November 2022 starben bei einem Bombenanschlag auf der İstiklal Caddesi in Istanbul 6 Menschen, 81 weitere wurden verletzt. Mit dem Taksim Platz zusammen gehört die Einkaufsstraße zu den Wahrzeichen der Stadt – der Angriff hatte also hohe Symbolkraft. Als Täterin wurde bereits wenige Stunden nach der Tat eine in Istanbul lebende Syrerin festgenommen. Auch zahlreiche weitere Personen, die mit der Vorbereitung des Anschlages in Verbindung gebracht werden, wurden verhaftet.
Innenminister Soylu machte bereits unmittelbar nach dem Bombenanschlag die PKK bzw. die kurdisch-syrische YPG verantwortlich und erklärte, der Befehl für den Anschlag sei aus der syrischen Stadt Kobane gekommen. Unverzüglich wurde ein Berichterstattungsverbot verhängt und das Internet landesweit verlangsamt. Sowohl die PKK als auch die YPG weisen jegliche Verantwortung für den Anschlag von sich.
Am 20. November 2022 verkündete Verteidigungsminister Akar, dass die türkische Luftwaffe mit Vergeltungsangriffen auf Ziele im Irak und Syrien begonnen habe. Zwar erklärte er, dass nur militärische Ziele angegriffen würden, doch berichten kurdische Quellen, dass auch Silos und ein Kraftwerk sowie zahlreiche Dörfer getroffen wurden. Die Türkei begründet das militärische Vorgehen als legitime, vom Völkerrecht abgedeckte Selbstverteidigung. Andere Staaten, darunter Deutschland, bejahen zwar das Recht auf Selbstverteidigung, verlangen aber Verhältnismäßigkeit. Bei den Vergeltungsmaßnahmen wurden auch Soldaten der regulären syrischen Armee und Zivilist_innen getötet.
Während der Innenminister die PKK und YPG für den Anschlag verantwortlich macht, gibt es auch Vermutungen, dass hinter der Tat islamistische Gruppen aus Syrien mit Verbindungen zur von der türkischen Regierung unterstützten Miliz „Freie Syrische Armee“ stehen könnten. Diese Annahmen stützen sich darauf, dass einer der engeren Tatverdächtigen über Verbindungen zur Freien Syrischen Armee verfügte.
Am 13. Oktober hat das Parlament gegen den erbitterten Widerstand von Opposition und Medienverbänden das sogenannte Desinformationsgesetz verabschiedet. Kritisiert wird vor allem die Ergänzung des Strafgesetzbuches um den Straftatbestand der vorsätzlichen Desinformation, wenn diese geeignet ist, die öffentliche Ordnung, die innere und äußerliche Sicherheit sowie die sogenannte Volksgesundheit zu beinträchtigen und die Bevölkerung zu beunruhigen. Als Strafmaß sind zwischen einem und drei Jahre Gefängnis vorgesehen.
Offen bleibt dabei, was genau als Desinformation einzustufen ist und wie der Vorsatz festgestellt werden kann. Auch Begriffe wie innere und äußere Sicherheit und öffentliche Ordnung sind äußerst unbestimmt. Bezieht man in die Betrachtung den Zustand der türkischen Justiz mit ein, schwebt über jeder missliebigen Äußerung das Damoklesschwert der Strafverfolgung. Medienverbände führen an, dass unter dieser Lesart Berichterstattung über Korruption oder Zweifel an Daten des Türkischen Statistikinstituts als „Desinformation“ bewertet werden könnten. Hinzu kommt, dass nicht nur Journalist_innen, sondern alle Nutzer_innen sozialer Medien betroffen sind. Denn ein Tweet kann den Straftatbestand genauso erfüllen wie ein Nachrichtenbeitrag.
Auch wenn führende AKP-Politiker_innen die hohen Anforderungen an eine Verurteilung wegen Desinformation betonten, ist es bezeichnend, dass ausgerechnet der Vorsitzende der CHP als einer der ersten zum Ziel der neue Strafbestimmung wurde. Die Polizei stützte ihre Strafanzeige gegen Kemal Kılıçdaroğlu nach dem Vorwurf, die Regierung habe der organisierten Kriminalität und damit der Verbreitung von Rauschgift in der Türkei Vorschub geleistet, nicht zuletzt auf das Desinformationsgesetz.
Auch die Festnahme der Vorsitzenden der Union der türkischen Ärztekammern, Şebnem Korur Fincancı, am 26. Oktober 2022 zeigt, wie sehr öffentliche Äußerungen zu einer schmalen Gradwanderung geworden sind. Şebnem Korur Fincancı hatte eine Woche zuvor gefordert, dass die Vorwürfe der PKK, die türkische Armee habe bei ihren Operationen im Nord-Irak Giftgas eingesetzt, untersucht werden müssten. Während Verteidigungsminister Akar erklärte, dass sich solche Waffen nicht im Inventar der türkischen Streitkräfte befänden, hatten Staatspräsident Erdoğan und der MHP-Vorsitzende Bahçeli eine Bestrafung der Ärztin gefordert.
Die Staatsanwaltschaft hat nun ein Ermittlungsverfahren wegen „Terrorpropaganda“ sowie „Schmähung des türkischen Volkes, des Staates und seiner Organe“ eingeleitet. Şebnem Korur Fincancı hatte in ihrer Erklärung auf internationale Standards zur Untersuchung solcher Vorwürfe hingewiesen. Wie zu erwarten hat die Verhaftung international Wellen geschlagen. Auch die UN-Sonderberichterstatterin für die Situation von Menschenrechtsverteidiger_innen, Mary Lawlor, zeigte sich besorgt und kündigte an, das Verfahren zu verfolgen.
Als die türkische Zentralbank auf Druck der Regierung im September 2021 ihre Zinssenkungspolitik einleitete, setzte sie auf ein gesteigertes Wirtschaftswachstum. Sie unterschätzte jedoch die Auswirkung auf die Devisenkurse und damit auf die Inflation. Da ein großer Teil der türkischen Produktion – sowohl in der Industrie als auch in der Landwirtschaft – auf Importprodukte angewiesen ist, schlägt eine Schwächung der Türkischen Lira stark auf die Erzeugerpreise durch. Die schwache Währung trieb zudem die seit Jahresbeginn deutlich gestiegenen Preise für Energieimporte weiter in die Höhe. Im Oktober 2022 erreichte der offizielle Anstieg der Verbraucherpreise 85,51 Prozent. Die Handelskammer Istanbul dagegen kommt auf 108 Prozent, eine unabhängige Arbeitsgruppe von Akademiker_innen sogar auf einen Wert von 185 Prozent für den Anstieg der Verbraucherpreise.
Zwar gelang es der Regierung ab Dezember 2021 die Devisenkurse unter Kontrolle zu bekommen, doch der Preis ist hoch. Mehr als 100 Mrd. TL sind bereits für die devisengeschützten Sparkonten ausgegeben worden, mit denen die Devisennachfrage gebremst wurde. Für verdeckte Stützkäufe der Zentralbank wurden außerdem mehr als 100 Mrd. Dollar ausgegeben. Im Ergebnis wird für 2022 mit einem Wirtschaftswachstum um mehr als 5 Prozent gerechnet. Da der Anteil der Lohnkosten im Bruttoinlandsprodukt jedoch rückläufig ist, geht das Wirtschaftswachstum in großem Maße an der Bevölkerung vorbei. Diese sieht sich stattdessen mit einer hohen Teuerungsrate konfrontiert, die auch durch die Anhebung des Mindestlohns im Juli 2022 nicht ausgeglichen werden konnte.
Eine weitere Kehrseite der Zinssenkungspolitik der türkischen Zentralbank war, dass diese sich nur geringfügig auf die Kreditzinsen der Banken auswirkte. Darum wurden die Banken angewiesen, ihre Kreditzinsen an den Leitzins der Zentralbank zu koppeln oder bei Zuwiderhandlung im großen Stil Staatsanleihen zu kaufen. In der Folge gingen bei den Krediten für mittelständische Unternehmen zwar tatsächlich die Zinsen zurück. Doch kam es auch zu einer Kreditverknappung. Denn der hohe Anstieg der Erzeugerpreise (um 157,69 Prozent zum Vorjahr nach offiziellen Angaben) führt zugleich zu einem erhöhten Finanzbedarf der Unternehmen. Da Banken gleichzeitig auf den Ankauf von Staatsanleihen auswichen, um dem hoch negativen Realzins zu entgehen, sanken auch dort die Zinsen. Die Banken warnen daher vor einem systemischen Risiko, denn im Falle eines Politikwechsels würden sie Verluste in Milliardenhöhe hinnehmen müssen.
Da die Regierung Zinserhöhungen als das klassische Instrument der Inflationsbekämpfung vermeiden möchte, versucht sie seit einem Jahr durch verstärkte Preiskontrollen gegen „Wucher“ vorzugehen oder den Preisanstieg für preisgebundene Waren zu verringern. Dies hat jedoch zum Teil erhebliche Nebenwirkungen. Durch eine Preisbremse für den Anstieg der Milchpreise wurde die Milchproduktion angesichts gestiegener Futtermittel- und Energiekosten für viele Betriebe unrentabel. Es begann ein Abbau des Tierbestandes, der zu einem Rückgang der Milchproduktion führte. In der Folge besteht ein hoher Preisdruck auf Milchprodukte.
Sozialverbände warnen, dass die stark gestiegenen Ernährungskosten insbesondere Familien mit Kindern träfen und der Anteil der Schülerinnen und Schüler, die ohne Frühstück in die Schule kommen, stark angestiegen sei. Die sogenannte Hungergrenze liegt Berechnungen des Gewerkschaftsbundes Türk İş zufolge für einen Vier-Personen-Haushalt derzeit bei 7.786 TL. Die Armutsgrenze beträgt 25.364 TL, noch immer das Vierfache des aktuellen Mindestlohnes (5.500 TL), den mehr als die Hälfte der regulär Beschäftigten bezieht. Der linke Gewerkschaftsbund DISK weist wiederum darauf hin, dass sich nur ein Drittel der Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter überhaupt in einer sozialversicherten Vollzeitbeschäftigung befindet (21,8 von 64,7 Millionen Menschen). Bei Frauen liegt dieser Anteil sogar nur bei 18 Prozent.
Das gravierende Ausmaß der sozialen Lage wird auch durch die reguläre Mindestlohnerhöhung - erwartet wird ein Anstieg auf 7.500 TL, DISK fordert aufgrund der hohen Inflation einen Mindestlohn von 13.200 TL - nicht wesentlich verbessern können. Ebenfalls für Dezember ist eine Ausweitung der Möglichkeit zur Frühverrentung geplant, die jedoch auf Arbeitgeberseite auf Bedenken trifft. Rund 1,5 Mio. Beschäftigte könnten betroffen sein und die Unternehmen befürchten den Verlust qualifizierte Kräfte sowie hohe Abfindungszahlungen.
Beide Maßnahmen, die auf eine Verbesserung der Popularität der Regierung im Vorfeld der Wahlen im kommenden Jahr zielen, greifen nur bei formalen Beschäftigungsverhältnissen. Arbeitslose profitieren davon nicht. Das Türkische Statistikinstitut meldete zwar einen Rückgang der Arbeitslosenquote im dritten Quartal 2022 um 0,7 Prozentpunkte auf 10 Prozent, dieser beruht jedoch zum Teil darauf, dass Menschen ihre aktive Suche nach Arbeit aufgegeben haben und damit nicht mehr als arbeitslos bzw. erwerbstätig zählen. Der Anstieg der Beschäftigung hat sich deutlich verringert (0,4 Prozent im dritten Quartal zu 2,3 Prozent noch im zweiten Quartal). Zudem verlagern sich die Arbeitsplätze: In der Industrie wird ein Rückgang von 103.000 Arbeitsplätzen verzeichnet, demgegenüber zeigte der Dienstleistungssektor einen deutlichen Anstieg.
Es gibt verschiedene Anzeichen dafür, dass dieser Trend anhält. Zwar hat die Regierung mit ihrer Niedrigzinspolitik beständig versucht, das Wirtschaftswachstum und damit auch die Beschäftigung zu steigern, doch führt die weltweite Konjunktur zu deutlichen Grenzen dieses Ansatzes. Im Inland wiederum hemmt die hohe Inflation die Wirtschaftsaktivitäten.
Bei einer Explosion in einem Bergwerk in Amasra starben am 14. Oktober 2022 42 Bergleute. Das Bergwerk der staatlichen Gesellschaft TTK galt wegen eines hohen Methangas-Aufkommens als besonders riskant. Während die TTK-Geschäftsleitung alle Vorwürfe im Hinblick auf unterlassene Vorkehrungen zurückweist, geht eine Untersuchung der Polizei davon aus, dass eine Kette von Versäumnissen zu dem Unglück geführt hat. Regeln seien flexibel gehandhabt worden, die Arbeitssicherheitsvorkehrungen mangelhaft gewesen und die Kontrollen unzureichend. Zudem wurde auf einen Bericht des Rechnungshofes verwiesen, der bereits zwei Jahre zuvor auf die Risiken dieses Bergwerks hingewiesen hatte.
Nach dem Unglück war die Regierung mit vier Ministern vor Ort, verschiedenste Rettungsdienste wurden mobilisiert und auch Staatspräsident Erdoğan reiste an, um sich vor Ort ein Bild zu machen. Er erklärte in einer ersten Stellungnahme, dass das Unglück Schicksal gewesen sei. Die Kammer der Bergbauingenieure und die Opposition widersprachen vehement. Nicht Schicksal, sondern unterlassene Sicherheitsmaßnahmen und Versäumnisse sowie die mangelnde Berücksichtigung von Qualifikation und Erfahrung bei Stellenbesetzungen seien die Gründe, warum die Türkei bei den Arbeitsunfällen im Bergbau an der Spitze der OECD-Länder liege.
Neben den individuellen Versäumnissen vor Ort kommen auch der Kontrollpraxis sowie der rechtlichen Aufarbeitung ein wichtiger Stellenwert zu. Es wird immer wieder berichtet, dass Kontrollen von Bergwerken nach vorheriger Anmeldung erfolgen und dem Kontrollteam dann ein mustergültiger Betrieb vorgeführt wird, während der Alltagsbetrieb und die nicht gezeigten Teile des Bergbaus ein ganz anderes Bild abgeben. Bei der gerichtlichen Aufarbeitung von Unfällen zeigt sich neben der langen Verfahrensdauer die Tendenz, nur unmittelbar Verantwortliche zur Rechenschaft zu ziehen. Auch beim Grubenunglück von Amasra scheinen die Ermittlungen nicht auf die Verantwortung der Muttergesellschaft einzugehen.
Ein weiterer Aspekt, der nicht nur für den Bergbau gilt, ist die Schwäche der türkischen Gewerkschaften und ihre Zersplitterung1. Vielerorts versuchen Arbeitgeber eine gewerkschaftliche Organisation mit allen Mitteln zu unterbinden oder genehme Gewerkschaften im Unternehmen anzusiedeln und diese zu fördern. Im Fall des Bergwerkes in Amasra erklärte beispielsweise ein Gewerkschaftsfunktionär der Allgemeinen Bergleute Gewerkschaft (Genel Maden İşçiler Sendikası), dass die Türkei Kohle benötige und sie, auch wenn sie dafür sterben müssten, weiter ins Bergwerk einfahren werden. Er verglich die getöteten Bergleute sogar mit den Gefallenen der Dardanellen-Schlacht im Ersten Weltkrieg. Für eine Verbesserung der Arbeitssicherheit ist das nicht hilfreich.
1 Siehe hierzu auch die FES-Publikation “TradeUnions in Turkey 2022” (https://turkey.fes.de/en/e/trade-unions-in-turkey-2022)
Der G20-Gipfel Mitte November wurde durch einen Raketeneinschlag in Polen überschattet. Aufmerksam wurde von den türkischen Medien verfolgt, dass sich der türkische Staatspräsident nicht unter den am Rande des Gipfels zu einer Krisensitzung zusammengetretenen Staatschef_innen befand, obgleich dieser ebenfalls vor Ort war. Ein offensichtlicher Widerspruch zu der von der Türkei angestrebten Rolle als Vermittlerin im Ukraine-Russland-Konflikt.
Gerade erst hatte sich UN-Generalsekretär Guterres bei Staatspräsident Erdoğan für seinen Einsatz zur Verlängerung des Abkommens über den Getreidekorridor im Schwarzen Meer bedankt. Nachdem das Abkommen Anfang November von Russland zwischenzeitlich ausgesetzt wurde, hatte die Türkei wesentlich dazu beigetragen, dass die russische Seite sich wieder an der Umsetzung beteiligte. Fast zeitgleich zum G20-Gipfel erfolgte dann sogar die Verlängerung des Abkommens um weitere 120 Tage.
Die Nichtbeteiligung der Türkei an der Krisensitzung am Rande des G20-Gipfels könnte ein Zeichen dafür sein, dass die Haltung der türkischen Regierung zunehmend Fragen bei westlichen Bündnispartnern aufwirft. Mehrfach wurde der Vorwurf erhoben, dass die Türkei durch ihre ausbleibende Beteiligung an den Russland-Sanktionen der NATO-Verbündeten zur Aushöhlung der Wirksamkeit beitrüge. Im Herbst brachten Delegationen aus den USA und der EU ihre Besorgnis zum Ausdruck und wandten sich dabei auch direkt an türkische Wirtschaftsverbände. Türkische Banken zogen sich daraufhin aus der Anwendung des russischen Zahlungssystems MIR zurück.
Für Irritation sorgte außerdem das Angebot von Staatspräsident Putin an die türkische Regierung, Thrakien zu einem Umschlagplatz für russisches Erdgas zu machen. Auch wenn europäische Staaten erklärten, sie würden kein russisches Erdgas aus der Türkei kaufen, wurden unverzüglich türkisch-russische Gespräche über die Realisierbarkeit des Projektes aufgenommen. Die Distanz zu den westlichen Verbündeten wurde auch bei der Teilnahme von Staatspräsident Erdoğan am Gipfel der Shanghai Cooperation Organisation (SCO) Mitte September deutlich. Die Türkei hat bisher einen Beobachterstatus, wird sich nun laut Staatspräsident Erdoğan aber um einen Beitritt zu der Organisation bemühen – die immerhin das Ziel hat, den Einflussbereich der NATO zu begrenzen.
Auch wenn die Flexibilität der türkischen Regierung bei ihrer Bündniswahl die westlichen Partner verärgern mag, ermöglicht eben diese der Türkei, eigene außenpolitische Interessen in alle Richtungen zu verfolgen, abzusichern und aus den verschiedenen Foren für sich einen maximalen Nutzen zu erzielen.
Auch die Blockade des Beitritts von Schweden und Finnland zur NATO führte bei den Bündnispartnern zu Kopfschütteln. Neben der Türkei hat bisher nur Ungarn den Beitritt der beiden Länder noch nicht ratifiziert. Als am 8. November Schwedens Ministerpräsident die Türkei besuchte, tat er sein Möglichstes, seine türkischen Gesprächspartner_innen davon zu überzeugen, dass sein Land die im Sommer ausgehandelten Verpflichtungen einhalten werde. Dafür erwartete er jedoch, dass das türkische Parlament unverzüglich den Beitritt Schwedens und Finnlands zur NATO ratifiziere. Auch beim vorherigen Besuch von NATO-Generalsekretär Stoltenberg war dies wohl eines der wichtigsten Themen.
Die türkische Nachrichtenplattform T24 berichtete allerdings Anfang November, dass nicht genannte Quellen in Ankara eine Ratifizierung noch in diesem Jahr für unwahrscheinlich halten und dabei auf die im Sommer 2023 bevorstehenden Wahlen verwiesen. Bereits im Frühjahr hatte die türkische Regierung deutlich gemacht, dass sie konkrete Zugeständnisse beider NATO-Beitrittskandidaten im Hinblick auf die Kooperation bei der Terrorismusbekämpfung erwarte. Gerade bei der von der Türkei geforderten Auslieferung von Personen sind die Spielräume der schwedischen und finnischen Regierung jedoch begrenzt - einen Eingriff in die Justiz dürften sie nicht wagen. Zur Auslieferung eines in der Türkei verurteilten PKK-Mitglieds Anfang Dezember betonte die schwedische Migrationsministerin, es handele sich um einen regulären Auslieferungsfall auf Basis eines abgelehnten Asylantrages, ohne Einfluss der Regierung bei den zuständigen Behörden und Gerichten.
In anderen Regionen steht das außenpolitische Klima hingegen auf Schönwetter. Am Mittelmeer schritt die Verbesserung der Beziehungen zu Israel in diesem Jahr bedeutend voran, beide Länder ernannten wieder Botschafter. Seit mehr als einem Jahr bemüht sich die türkische Außenpolitik zudem um eine Verbesserung der Beziehungen zu Ägypten, die nach dem Militärputsch von General Al-Sisi 2013 auf Eis gelegen haben. Der Preis war unter anderem, dass sich im Streit um die Meereszonen im östlichen Mittelmeer drei Länder gegen die Türkei zusammenschlossen: Israel, Ägypten und Griechenland. Im Gegenzug unterstützte die Türkei die libysche Regierung im dortigen Bürgerkrieg und schloss mit dieser ein Meeresabkommen. Um die Beziehungen zu Ägypten zu verbessern, folgte die türkische Regierung jetzt einer Forderung Kairos und schränkte die die Aktivitäten der Muslimbruderschaften in der Türkei ein. Als die Türkei und Libyen Anfang Oktober ein Abkommen über die Kooperation bei der Suche nach Erdgas im Mittelmeer abschlossen, erklärte die ägyptische Regierung den Entspannungsprozess zwischenzeitlich für beendet. Nach einem freundlichen Händedruck der Präsidenten Erdoğan und Al-Sisi bei der Fußballweltmeisterschaft in Katar zeigten sich beide Seiten jedoch wieder optimistisch, alle vorhandenen Differenzen kurzfristig aus der Welt schaffen zu können. Innenpolitisch schlug dieser Händedruck in der Türkei hohe Wellen, denn Erdoğan hatte seinen islamistischen Anhänger_innen immer wieder geschworen, nicht mit den Putschisten, die Präsident Mursi gestürzt hatten, zu kooperieren.
Doch auch wenn durch einen Händedruck ein Neuanfang in den Beziehungen zwischen der Türkei und Ägypten eingeleitet werden mag, wird die Lösung der Konflikte zwischen beiden Ländern bedeutend längere Zeit beanspruchen. Diese Differenzen beziehen sich nicht allein auf die Suche nach Erdgas im östlichen Mittelmeer, sondern auch auf die türkische Präsenz in Libyen. Mit Blick auf die Bündnisse im östlichen Mittelmeer bleibt zudem offen, wie sich Griechenland positionieren wird. Zurzeit bestimmen nationalistische Motive in Griechenland und der Türkei, die beide jeweils vor Wahlen stehen, die bilateralen Beziehungen. Es ist jedoch durchaus denkbar, dass sowohl Israel als auch Ägypten ihre Position beim Konflikt um die Meeresnutzungsrechte aufweichen und so Raum für einen Kompromiss schaffen.
Martin Schulz besucht Türkei: Der FES-Vorsitzende und ehemalige Präsident des Europäischen Parlaments Martin Schulz besuchte vom 30.11.-2.12.2022 die Türkei, um sich ein Bild von der aktuellen politischen Lage zu machen. In Istanbul diskutierte er mit dem CHP-Vorsitzenden Kemal Kılıçdaroğlu auf einem Panel zu Fragen des Sozialstaates. In Istanbul und Ankara führte Martin Schulz im Anschluss Gespräche mit weiteren Politiker_innen und NGO-Vertreter_innen. Und besuchte natürlich das FES-Team im frisch renovierten Büro in Istanbul!
IPG-Artikel: „Tanz auf allen Hochzeiten“ (22.11.2022) Henrik Meyer, Landesvertreter der FES Türkei, setzt sich in seinem Artikel mit der flexiblen Bündniswahl der Türkei auseinander. Er stellt fest: Die Bündnisvielfalt ermöglicht es dem türkischen Präsidenten, die eigenen außenpolitischen Interessen bestmöglich durchzusetzen. Die fluide Bündnispolitik und hybriden Partnerschaften der Türkei seien auch Ausdruck einer veränderten Weltordnung.
In dem Tagesschau-BeitragTätersuche als Wahlkampfmanöver? (19.11.2022) sowie im rbb24-InforadioAnschlag in Istanbul - cui bono? (14.11.2022) gibt Henrik Meyer eine Einschätzung dazu, welche Rolle der Anschlag in Istanbul am 13.11.2022 für den anstehenden Wahlkampf spielen könnte.
FES-Studie „Wer sitzt (nicht) im Parlament?“ Die Studie von Lea Elsässer und Armin Schäfer zur sozialen Repräsentativität von Parlamenten in fünf Ländern zeigt: Auch im türkischen Parlament sind junge Menschen, Arbeiter_innen und Frauen stark unterrepräsentiert. Der Anteil von Unternehmer_innen und Selbstständigen ist im Vergleich hingegen wesentlich höher. Die Studie ist auf Deutsch und Türkisch verfügbar.
Just Transition in der Türkei: Gemeinsam mit IndustriALL Global und IndustriALL Europe organisierte die FES Türkei einen Workshop zum Thema Just Transition. Informationen und Forderungen von Industriebeschäftigten zu einem gerechten Strukturwandel stehen jetzt u.a. auf Deutsch und Türkisch zur Verfügung.
Ausgabe Türkei Nachrichten Nr. 59 (Dezember)
Istanbul Office+90 212 310 82 37+90 212 258 70 91
Ankara Office+90 312 441 85 96
contact.TR(at)fes.de
Sign up to our Newsletter
This site uses third-party website tracking technologies to provide and continually improve our services, and to display advertisements according to users' interests. I agree and may revoke or change my consent at any time with effect for the future.
These technologies are required to activate the core functionality of the website.
This is an self hosted web analytics platform.
Data Purposes
This list represents the purposes of the data collection and processing.
Technologies Used
Data Collected
This list represents all (personal) data that is collected by or through the use of this service.
Legal Basis
In the following the required legal basis for the processing of data is listed.
Retention Period
The retention period is the time span the collected data is saved for the processing purposes. The data needs to be deleted as soon as it is no longer needed for the stated processing purposes.
The data will be deleted as soon as they are no longer needed for the processing purposes.
These technologies enable us to analyse the use of the website in order to measure and improve performance.
This is a video player service.
Processing Company
Google Ireland Limited
Google Building Gordon House, 4 Barrow St, Dublin, D04 E5W5, Ireland
Location of Processing
European Union
Data Recipients
Data Protection Officer of Processing Company
Below you can find the email address of the data protection officer of the processing company.
https://support.google.com/policies/contact/general_privacy_form
Transfer to Third Countries
This service may forward the collected data to a different country. Please note that this service might transfer the data to a country without the required data protection standards. If the data is transferred to the USA, there is a risk that your data can be processed by US authorities, for control and surveillance measures, possibly without legal remedies. Below you can find a list of countries to which the data is being transferred. For more information regarding safeguards please refer to the website provider’s privacy policy or contact the website provider directly.
Worldwide
Click here to read the privacy policy of the data processor
https://policies.google.com/privacy?hl=en
Click here to opt out from this processor across all domains
https://safety.google/privacy/privacy-controls/
Click here to read the cookie policy of the data processor
https://policies.google.com/technologies/cookies?hl=en
Storage Information
Below you can see the longest potential duration for storage on a device, as set when using the cookie method of storage and if there are any other methods used.
This service uses different means of storing information on a user’s device as listed below.
This cookie stores your preferences and other information, in particular preferred language, how many search results you wish to be shown on your page, and whether or not you wish to have Google’s SafeSearch filter turned on.
This cookie measures your bandwidth to determine whether you get the new player interface or the old.
This cookie increments the views counter on the YouTube video.
This is set on pages with embedded YouTube video.
This is a service for displaying video content.
Vimeo LLC
555 West 18th Street, New York, New York 10011, United States of America
United States of America
Privacy(at)vimeo.com
https://vimeo.com/privacy
https://vimeo.com/cookie_policy
This cookie is used in conjunction with a video player. If the visitor is interrupted while viewing video content, the cookie remembers where to start the video when the visitor reloads the video.
An indicator of if the visitor has ever logged in.
Registers a unique ID that is used by Vimeo.
Saves the user's preferences when playing embedded videos from Vimeo.
Set after a user's first upload.
This is an integrated map service.
Gordon House, 4 Barrow St, Dublin 4, Ireland
https://support.google.com/policies/troubleshooter/7575787?hl=en
United States of America,Singapore,Taiwan,Chile
http://www.google.com/intl/de/policies/privacy/