28.03.2025

Die politische Auseinandersetzung in der Türkei verschärft sich

Nach dem Wahlsieg von Ekrem İmamoğlu und der CHP bei den Kommunalwahlen 2024 eskaliert die politische Lage in der Türkei. Mehrere CHP-Bürgermeister wurden wegen angeblicher Korruption und PKK-Unterstützung verhaftet und durch Zwangsverwalter ersetzt. İmamoğlu selbst wurde am 19. März festgenommen, kurz vor der Vorabstimmung der CHP zur Auswahl ihres Präsidentschaftskandidaten. Zuvor hatte die Istanbul Universität ihm seinen Hochschulabschluss aberkannt, was eine Kandidatur unmöglich machte. Diese Maßnahmen zielen darauf ab, die Opposition systematisch zu schwächen und die politische Kontrolle zu sichern.

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Die politische Auseinandersetzung in der Türkei verschärft sich

Bei der Kommunalwahl im vergangenen Jahr wurde Ekrem İmamoğlu mit einer deutlichen Mehrheit als Istanbuler Oberbürgermeister wiedergewählt. Zugleich gewann die CHP die Wahlen in den meisten Stadtbezirken. Doch rund ein halbes Jahr später wurde der CHP-Bürgermeister des Stadtbezirks Esenyurt unter dem Vorwurf der Unterstützung der PKK verhaftet und an seiner Stelle der Landrat des Bezirks als Zwangsverwalter eingesetzt. Es folgten im Januar und Februar die Stadtbezirke Beşiktaş und Beykoz. Hier wurden Korruptionsvorwürfe erhoben, so dass der Stadtrat kommissarische Bürgermeister wählen konnte. Außerdem wurden im Februar zahlreiche CHP- und DEM-Kommunalpolitiker unter Terrorismusverdacht verhaftet. Die größte Verhaftungswelle erfolgte jedoch am 19. Januar, bei der neben Oberbürgermeister İmamoğlu sowie den Bezirksbürgermeistern von Şişli und Beylikdüzü gegen mehr als 100 Personen Haftbefehle ergingen. Hintergrund waren Ermittlungsverfahren wegen Korruption und Unterstützung der PKK. Nach der Anordnung von Untersuchungshaft wurden für die Metropole Istanbul Nuri Aslan und den Stadtbezirk Beylikdüzü Serkan Çebi als kommissarische Bürgermeister gewählt.

Ekrem İmamoğlu war bereits bei der Präsidentschaftswahl 2023 als Kandidat des Oppositionsbündnisses im Gespräch. Nachdem er jedoch im Dezember 2022 wegen einer angeblichen Beleidigung des Hohen Wahlrates zu einer Freiheitsstrafe und Politikverbot verurteilt wurde, verzichtete das Oppositionsbündnis auf die Kandidatur İmamoğlus. Zwar ist das Urteil nach wie vor nicht rechtskräftig, doch sollte vermieden werden, dass eine Entscheidung unmittelbar vor der Wahl das Oppositionsbündnis ohne Kandidaten zurückgelassen hätte. Weitere Ermittlungsverfahren wegen Beleidigung und Beeinflussung der Justiz wurden in diesem Jahr eingeleitet. Zudem wurde ein Ermittlungsverfahren wegen Bestechung zum CHP-Parteitag im November 2023 eingeleitet, bei dem Özgür Özel zum neuen Vorsitzenden der Partei gewählt wurde.

Im Februar beschloss die CHP unter dem Eindruck der zunehmenden Verhaftungen sowie den Ermittlungsverfahren gegen İmamoğlu am 23. März eine Vorabstimmung zur Auswahl ihres Präsidentschaftskandidaten durchzuführen. Am 18. März wurde Ekrem İmamoğlu von der Istanbul Universität der Hochschulabschluss entzogen. Dieser ist jedoch Voraussetzung für eine Bewerbung zum Amt des Staatspräsidenten. Seit dem 19. März befindet es sich in Haft, der Beschluss der Untersuchungshaft fiel auf den Tag der Vorabstimmung.

Allgemeine Empörung

Ekrem İmamoğlu ist ein nicht nur in Istanbul populärer Politiker, der in Meinungsumfragen seit längerer Zeit besser abschneidet als Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan. Hatte die CHP seit Oktober 2024 bereits mit zahlreichen Kundgebungen gegen das Vorgehen  gegen ihre Kommunalpolitiker protestiert, so löste die Verhaftung İmamoğlus auch über die Partei hinaus große Empörung aus. Vom 19. bis zum 25. März fanden täglich vor der Metropolverwaltung Kundgebungen mit mehreren Hunderttausend Teilnehmenden statt. Doch die Proteste beschränken sich nicht auf Istanbul und haben sich trotz Demonstrationsverboten in Istanbul, Ankara und Izmir auf das ganze Land ausgebreitet. Auch wenn die CHP am 25. März ihre letzte Kundgebung vor dem Sitz der Metropole Istanbul in Saraçhane durchgeführt hat, ist dies nicht das Ende der Straßenproteste. Die Demonstrationen finden nun dezentral teils unter Führung der CHP, teils unter studentischer Regie statt.

Bei der Vorwahl haben mehr als 14,850 Millionen Menschen ihre Unterstützung für Ekrem İmamoğlu als Präsidentschaftskandidaten der CHP bekundet. Dies ist mehr als die Partei bei der Parlamentswahl 2023 an Stimmen erhielt.

Die Massenempörung wegen der Verhaftung İmamoğlus beruht zum einen darauf, dass die Protestierenden dies als direkten Angriff auf die Demokratie ansehen. Sie wird jedoch zusätzlich gespeist aus der Unzufriedenheit insbesondere junger Menschen, die von Inflation und Wohnungsnot, Entwertung ihrer Bildungsabschlüsse und fehlender Zukunftsperspektiven besonders betroffen sind.

Reaktionen der Regierung

Die Regierung reagiert auf die Proteste mit einer Vielzahl von restriktiven Maßnahmen. Neben den Kundgebungsverboten in Istanbul, Ankara und Izmir werden Straßen gesperrt, der öffentliche Nahverkehr eingeschränkt und Universitäten blockiert. Mehrfach wurde der Zugang zu sozialen Medien unterbunden, um die Organisation von Protesten zu erschweren. Es wurden zahlreiche Ermittlungsverfahren wegen Äußerungen in sozialen Medien eingeleitet. Die Aufsicht für Rundfunk und Fernsehen RTÜK drohte oppositionellen Medien den Entzug ihrer Sendelizenzen an, wenn sie weiter live über Demonstrationen berichten. Neben dem Einsatz von Wasserwerfern und Tränengas kam es zu mehr als 1.500 Festnahmen bei Demonstrationen, weitere erfolgten im Anschluss an Demonstrationen zu Hause.

Die Repression richtet sich jedoch nicht allein gegen die CHP. Am 21. März wurde der Vorstand der Anwaltskammer Istanbul des  Amtes enthoben. Auch hier lautete der Vorwurf auf Unterstützung der PKK. Im Februar wurden zwei führende Mitglieder des Vereins Türkischer Geschäftsleute und Unternehmer TÜSIAD polizeilich der Staatsanwaltschaft vorgeführt, nachdem bei der Hauptversammlung des Vereins Kritik an fehlender Rechtsstaatlichkeit geübt wurde. Hier lautet der Vorwurf auf Desinformation. Ein weiterer Strang ist die Wiederaufnahme der Ermittlungen zu den Gezi Park Protesten 2013. In diesem Zusammenhang wurde am 19. März der bekannte Journalist İsmail Saymaz festgenommen. Die Regierung betrachtet die damalige Protestbewegung, die sich an der Umgestaltung des Taksim Platzes im Herzen Istanbuls entzündete und auf das ganze Land ausbreitete, als Versuch eines Staatsstreichs. Als Rädelsführer wurden Osman Kavala zu lebenslänglicher und sieben weitere Angeklagte zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Im Januar 2025 wurde die Filmproduzentin Ayşe Barım mit dem Vorwurf inhaftiert, sich an der Planung der Gezi Park Proteste beteiligt zu haben, nun wird ein ähnlicher Vorwurf auch gegen İsmail Saymaz erhoben.

Politische Justiz

Rechtlich erscheint das Vorgehen fragwürdig. In der Türkei gelten Ermittlungsverfahren – seien es polizeiliche oder staatsanwaltliche – bis zur Erhebung einer Anklage als geheim. Die Festnahme eines Verdächtigen kann „auf frischer Tat“ erfolgen. Die polizeiliche Vorführung eines Verdächtigen kann auf Anordnung der Staatsanwaltschaft erfolgen, wenn Fluchtgefahr besteht. Auch kann eine Person für 24 Stunden in Gewahrsam genommen werden, wenn neben Fluchtgefahr das Risiko besteht, dass Beweise manipuliert oder Zeugen eingeschüchtert werden. Für die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens und insbesondere für die Anordnung von Zwangsmaßnahmen muss überdies ein hinreichender Verdacht auf eine Straftat vorliegen. Das Vorgehen muss verhältnismäßig sein.

Die Praxis jedoch sieht anders aus. Informationen über die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gelangen regelmäßig in die Medien. Und auch der begründete Anfangsverdacht kann auf eine einfache Denunziation zurückgehen.

Die Aufnahme von Ermittlungen zum CHP-Parteitag im November 2023 beruht auf der Aussage eines Zeugens. Dieser hatte jedoch selbst keine Kenntnis von Manipulationen, sondern hatte nur von solchen gehört. Details des Ermittlungsverfahrens waren in den Medien bekannt - bis hin zu den Namen der vorgeladenen Zeugen. Es ist offensichtlich, dass dies potentielle Ermittlungen behindert.

Das grundsätzliche Problem liegt jedoch in der unzulänglichen Unabhängigkeit der Justiz. Mit dem Übergang zum Präsidialsystem wurde auch der Rat für Richter und Staatsanwälte verändert. Das Gremium ist für die Personalangelegenheiten von Richtern und Staatsanwälten zuständig und  wird nun mit einfacher Mehrheit vom Parlament gewählt. Dies hat zur Folge, dass eine Regierungsmehrheit automatisch auch die Dienstaufsicht der Justiz bestimmen kann. Zudem ist zwar seit einigen Jahren angekündigt worden, Richter und Staatsanwälte vor willkürlichen Versetzungen zu schützen, dies wurde aber immer wieder verschoben.

Kein Ende in Sicht

Die CHP hat die Fortsetzung der Proteste angekündigt, bis Ekrem İmamoğlu freigelassen und vorgezogene Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ausgerufen werden. Das im Sommer 2023 eingeleitete Programm zur Inflationsbekämpfung hat einen Rückschlag erlitten, weil die Finanzmärkte mit Panik auf die Verhaftungswellen und Proteste reagieren. Da dies in Form von Inflation und Arbeitslosigkeit auf die Gesamtbevölkerung zurückfällt, untergräbt es den Rückhalt der Regierung weiter.

 

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