WEICHENSTELLUNG - KOMMUNALWAHLEN IN DER TÜRKEI
Knapp ein Jahr nach der Präsidentschafts- und Parlamentswahl steht die Türkei am 31. März 2024 vor den Kommunalwahlen. Im ganzen Land wird gewählt, von der Ortsvorsteherin bis hin zum Oberbürgermeister können bis zu fünf Stimmen vergeben werden. Vor allem die Metropolregionen, in denen fast 80 Prozent der Menschen leben, sind heiß umkämpft. 2019 war die Niederlage des AKP-Kandidaten in Istanbul gegen den heutigen Oberbürgermeister İmamoğlu ein entscheidender Triumph der Opposition, der zu ihrer Stärkung und Einigung bis hin zu den Wahlen 2023 beitrug. Ob die Opposition ihren Wahlerfolg auf kommunaler Ebene wiederholen kann, scheint jedoch ungewiss. Im Gegensatz zu 2019 konnten keine Allianzen für gemeinsame Kandidat:innen gebildet werden, die Opposition ist fragmentiert.
Wie sich die politische Landschaft vor den Kommunalwahlen darstellt, was am 31. März alles gewählt wird und warum die Großstädte in den Wahlen eine zentrale Rolle spielen, darüber berichtet diese Sonderausgabe der Türkei-Nachrichten zu den Kommunalwahlen in der Türkei 2024.
Nach der Niederlage des Oppositionsbündnisses bei der Präsidentschafts- und Parlamentswahl im Mai 2023 hat sich die politische Landschaft stark verändert. Das große Oppositionsbündnis aus sechs Parteien, der sogenannte 6er-Tisch, ist auseinandergebrochen. In der größten Oppositionspartei CHP wurde der langjährige Parteivorsitzende Kemal Kılıçdaroğlu, der bei den letzten Wahlen als Präsidentschaftskandidat der Opposition angetreten war, durch Özgür Özel abgelöst. Ebenfalls Führungsambitionen hat Istanbuls Oberbürgermeister Ekrem İmamoğlu, der bei dem zermürbenden Streit um den CHP-Vorsitz Özel unterstützte. Aufgrund des schwebenden Verbotsverfahrens gegen die links-kurdische HDP führt diese ihre Politik in der Partei für Gleichberechtigung und Demokratie der Völker (DEM) weiter. Doch anders als bei der vorherigen Kommunalwahl und den Wahlen im vergangenen Jahr unterstützt die Partei die CHP-Oberbürgermeisterkandidaten in den Metropolen Istanbul und Ankara diesmal nicht. Bei der säkular-nationalistischen İyi-Partei führte der Beschluss, das Bündnis mit der CHP zu verlassen, zum Austritt führender Politiker:innen.
Unter diesen Vorzeichen kommt der bevorstehenden Kommunalwahl im Hinblick auf die Zukunft der Opposition eine wichtige Rolle zu. Sollte sich Ekrem İmamoğlu in Istanbul durchsetzen, wäre dies ein großer Erfolg und könnte ihm den Weg ebnen, innerhalb der CHP zu dominieren. Anderenfalls gehen viele Beobachter:innen davon aus, dass die CHP sich im Streit dreier Blöcke um Kemal Kılıçdaroğlu, Özgür Özel und Ekrem İmamoğlu aufreiben könnte. Für die İyi-Partei geht es um ihre Existenz, denn sollte sich die Entscheidung gegen eine Zusammenarbeit nicht auszahlen, dürfte ihr Ziel, die rechte Mitte zu erobern, stark an Glaubwürdigkeit verlieren. Möglich ist aber auch, dass die Streitereien in der CHP und İyi-Partei zu Proteststimmen führen, die kleinere Parteien wie die rechtsextreme Zafer-Partei und die linke Türkische Arbeiterpartei (TİP) stärken könnten. Die AKP wiederum konnte die radikal-islamische Neue Wohlfahrtspartei (YRP) nicht für sich gewinnen. Es wird davon ausgegangen, dass sowohl die YRP als auch die links-kurdische DEM neben den Kommunalwahlen auch schon die nächsten Parlamentswahlen 2028 anvisieren. Ein gutes Abschneiden bei den Kommunalwahlen würde ihnen hierbei zu Gute kommen.
Die kommunalen Verwaltungen haben drei Ebenen: Provinzen, Landkreise und Ortschaften. Ortschaften können Nachbarschaften (Mahalle) oder Dörfer sein, verfügen über einen Ältestenrat und werden durch einen Ortsvorsteher*) vertreten. Landkreise verfügen über einen Kreisstadt-Bürgermeister und einen Kreisstadtrat. Auf Provinzebene gibt es eine gewählte Provinzversammlung. Die Exekutive wird durch einen durch die Zentralregierung bestimmten Provinzgouverneur vertreten. In Metropolen entspricht die Großstadtgrenze der Provinzgrenze, sie werden durch einen direkt gewählten Oberbürgermeister geführt, auch hier ist die Zentralregierung durch einen Provinzgouverneur vertreten. Der Großstadtrat wird von Delegierten der Bezirksstadträte sowie den direkt gewählten Bezirksbürgermeistern gebildet.
Bürgermeister repräsentieren die Stadt, führen die Verwaltung und kommunale Dienste und sind für die Vorbereitung des Haushalts zuständig. Der Rat wiederum erlässt den Haushalt, genehmigt kommunale Gebühren und stimmt dem Verkauf kommunaler Immobilien sowie den Bebauungsplänen zu. Bürgermeister werden in Personenwahl mit einfacher Mehrheit gewählt, die Ratsmitglieder wiederum werden nach Parteilisten in Verhältniswahl gewählt. Es kann darum passieren – wie aktuell in den Räten der Metropolen Ankara und Istanbul – dass Bürgermeister nicht über die Mehrheit im Rat verfügen. Der Ortsvorsteher (Muhtar) übernimmt auf der Ebene der Ortschaft oder Nachbarschaft Aufgaben der öffentlichen Verwaltung, u.a. im Gesundheits-, Ordnungs-, und Einwohnermeldewesen, und leitet Anliegen der Anwohner:innen an die nächsthöhere Instanz weiter.
Die beschriebenen kommunalen Strukturen der Selbstverwaltung betten sich in ein stark zentralisiertes System ein. Neben den durch Wahlen bestimmten Strukturen existiert die kommunale Struktur der Zentralregierung. Diese bestimmt auf Landkreisebene Landräte und auf Provinzebene Provinzgouverneure, die dem Innenministerium unterstehen. In Metropolen wird die Zentralregierung äquivalent dazu durch Gouverneure auf Provinz- und Bezirksebene vertreten. Die Strukturen von Zentralregierung und kommunaler Selbstverwaltung haben jeweils unterschiedliche Zuständigkeits- und Verantwortungsbereiche. Die dem Innenministerium unterstellte Provinzverwaltung ist für die Sicherheit zuständig und umfasst die Außenstellen der Ministerien. Neben der Kommunalaufsicht durch das Innenministerium kommt insbesondere dem Ministerium für Stadt, Umwelt und Klimawandel mit der Genehmigung von Bebauungsplänen eine wichtige Rolle in kommunalen Belangen zu.
Beschränkt wird die kommunale Selbstverwaltung zudem durch die Finanzierung. Nur ein kleiner Teil der Kommunalfinanzen gehen den Städten direkt durch Steuern und Gebühren zu. Den Großteil des kommunalen Budgets stellen Zuwendungen durch die Zentralregierung, die sich nach Bevölkerungsgröße richten. Für die Verwirklichung von Infrastrukturprojekten haben zudem die durch die Regierung kontrollierte Iller Bank vergebenen Kredite eine große Bedeutung. Hier haben sich durch die Opposition geführte Kommunen in der Vergangenheit häufig beschwert, bei der Vergabe benachteiligt zu werden. Will eine Kommune Kredite bei internationalen Banken aufnehmen, benötigt sie eine Genehmigung durch das Finanzministerium. Dies hat insbesondere bei Metrobauprojekten in Istanbul und Izmir in den vergangenen fünf Jahren vielfach zu Verzögerungen geführt.
Die Rolle des Innenministeriums bei der Kommunalaufsicht ist nicht unumstritten. In Istanbul stieß die Stadtregierung unmittelbar nach ihrem Amtsantritt 2019 umfangreiche Korruptionsuntersuchungen gegen ihre Vorgänger:innen an. Doch die Ermittlungen wurden vom Innenministerium an sich gezogen und auf Eis gelegt. Auch in Ankara wurde die Erlaubnis zur Untersuchung der Amtspraxis des früheren AKP-Bürgermeisters blockiert.
Demgegenüber wurden in allen Provinzhauptstädten, die die pro-kurdische HDP bei den Kommunalwahlen 2019 gewann, die Bürgermeister:innen abgesetzt und durch die Provinzgouverneur:innen ersetzt. Ein Teil von ihnen wurde inhaftiert, doch auch jene, die nicht inhaftiert wurden, durften ihr Amt nicht weiterführen. Auch zahlreiche Kreisstädte waren von Absetzungen betroffen, bei denen die jeweiligen durch die Zentralregierung eingesetzten Landrät:innen dann zu kommissarischen Bürgermeister:innen ernannt wurden. Dabei gilt im Regelfall, dass die Nachfolge durch den Stadtrat bestimmt wird, sollte ein:e Bürgermeister:in ausfallen. Da die Stadträte jedoch auch von der HDP dominiert wurden, erfolgte die Ernennung direkt durch das Innenministerium. Dieses System der Einsetzung von Zwangsverwalter:innen dominiert auch die Diskussion bei der anstehenden Wahl. Neben dem undemokratischen Vorgehen wurden auch zahlreiche Vorwürfe gegen die Amtsführung der kommissarischen Bürgermeister:innen erhoben, die jedoch nie aufgeklärt wurden.
* Zur besseren Lesbarkeit wird hier für Amtsbezeichnungen die männliche Form genutzt. Die Amtsbezeichnung gilt für alle Geschlechter.
Türkische Parteien werden in der Regel von dem Parteivorsitz dominiert. Neben dem oder der Parteivorsitzenden kommt zudem der Parteizentrale eine bestimmende Rolle zu. Im Hinblick auf die Auswahl der Kandidat:innen bei der Kommunalwahl bedeutet dies, dass in den wenigsten Fällen die lokalen Parteigliederungen über die Kandidat:innen für das Bürgermeisteramt oder den Rat entscheiden. Vielmehr werden Umfragen durchgeführt, Gespräche mit den Parteigliederungen geführt und wenn es sich um eine Kommune unter Führung der eigenen Partei handelt, eine Leistungsbewertung vorgenommen. Dass bei den Bürgermeisterwahlen zudem Parteibündnisse berücksichtigt werden, jedoch die lokalen Parteigliederungen vielfach aus den Verhandlungen darüber ausgeschlossen sind, entfremdet die Entscheidungen weiter von der Parteibasis.
Als besonders problembeladen erwies sich die Kandidat:innenfindung bei der CHP und der İyi-Partei. Die neue CHP-Führung hatte im Vorfeld des Parteitages im November 2023 versprochen, künftig für die Auswahl der Kandidat:innen Vorwahlen unter den Parteimitgliedern durchzuführen. Doch bereits unmittelbar nach dem Parteitag wurde das Projekt unter Verweis auf Zeitmangel aufgegeben. Das Argument ist nicht ganz von der Hand zu weisen, denn das Parteiengesetz sieht vor, dass Vorwahlen unter Aufsicht der nationalen Wahlräte durchgeführt werden, eine umständliche und zeitraubende Angelegenheit.
Die neue Parteiführung versprach, Vorwahlen in Eigenregie durchzuführen, doch auch dies wurde nur an wenigen Orten verwirklicht. Stattdessen wurden hinter verschlossenen Türen Verhandlungen geführt, die sich mehr und mehr in die Länge zogen. Dies führte dazu, dass von vielen lokalen Parteigliederungen der Vorwurf erhoben wurde, übergangen worden zu sein. Auch gab es immer wieder Kommunikationspannen wie beim langjährigen CHP-Bürgermeister von Eskişehir, der erst zu einer erneuten Kandidatur aufgefordert, dann aber nicht nominiert wurde. In Izmir und im Istanbuler Stadtbezirk Ataşehir erhoben unterlegene Anwärter den Vorwurf, die neue Führung würde Unterstützer:innen des früheren Parteivorsitzenden ausgrenzen. Dies verstärkte den Eindruck einer in drei Lager um Özgür Özel, Ekrem İmamoğlu und Kemal Kılıçdaroğlu gespaltenen Partei. Als besonders umstritten erwies sich die erneute Nominierung des Bürgermeisters von Hatay, Lütfü Savaş. Savaş wurde als Bürgermeister für das Ausmaß der Schäden in der am stärksten vom Erdbeben vom 6. Februar 2023 betroffene Provinz mit verantwortlich gemacht. Die CHP-Führung begründete ihre Entscheidung damit, dass Savaş der Kandidat mit den besten Wahlchancen sei.
Bei der İyi-Partei drehte sich die öffentliche Diskussion weniger um die Kandidat:innen, sondern um die mögliche Fortführung eines Wahlbündnisses mit der CHP. 2019 wurde der Wahlsieg von Ekrem İmamoğlu in Istanbul der Bündnispolitik der Oppositionsparteien zugeschrieben. Bei der Parlaments- und Präsidentschaftswahl 2023 dagegen erwies sich das Bündnis als nicht so erfolgreich wie erwartet. Als Reaktion darauf entschied die Partei künftig ihre Politik „frei und eigenständig“ zu gestalten. Ein weiterer Faktor ist, dass mit Blick auf die Wählerwanderungen die İyi-Partei weniger die Unterstützer:innen des Regierungsbündnisses, sondern eher der CHP anspricht. Mit der Nominierung eines eigenen Kandidaten in Istanbul verschaffte sie sich zwar die Chance, ihr Profil zu schärfen. Aussicht auf einen Wahlerfolg hat sie jedoch nicht. Politikerinnen und Politiker der İyi-Partei, die nicht die Verantwortung für den Verlust von Bürgermeisterposten für die Opposition tragen wollten, traten daraufhin aus der Partei aus.
Die links-kurdische DEM führte nach den Wahlen im vergangenen Jahr einen intensiven Diskussionsprozess durch, bei dem insbesondere die Frage der Auswahl der Kandidat:innen eine wichtige Rolle spielte. Die Partei entschied sich, ein Vorwahlsystem zu entwickeln, das sie als „Stadtkonsens“ bezeichnet und das in vielen Städten zum Einsatz kam. Die Vorwahlen bei der DEM sollten nicht nur der Auswahl der Kandidat:innen dienen, sondern auch eine Amtsenthebung erschweren, die in der Vergangenheit vielfach mit dem Vorwurf erfolgte, die PKK habe die Kandidat:innenauswahl beeinflusst. An den Vorabstimmungen nahmen Delegierte teil, die durch Mitglieder, Meinungsführer:innen der jeweiligen Stadt sowie befreundete zivilgesellschaftliche Organisationen bestimmt wurden. Bei den Bürgermeisterkandidat:innen gilt nicht nur das Prinzip der Doppelspitze mit je einem Mann und einer Frau, sondern auch die Regel, dass ein zweiter Wahlgang durchgeführt wird, wenn sich keine absolute Mehrheit für eine Person findet. Um die Geschlechterquote zu sichern, wurde über männliche und weibliche Kandidaten getrennt abgestimmt.
Im Vorfeld der Kommunalwahlen kam es auch zu Gesprächen zwischen der DEM und der CHP. Als Verhandlungen über eine Unterstützung von CHP-Oberbürgermeister Ekrem İmamoğlu durch die DEM zu keinem Ergebnis führten, erklärte Başak Demirtaş, Ehefrau des inhaftierten früheren HDP-Co-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş, dass sie sich eine Kandidatur für das Oberbürgermeisteramt in Istanbul vorstellen könnte. Eine Erklärung, warum sie schließlich doch nicht kandidieren wollte, gab sie nicht ab. Die DEM nominierte stattdessen die Abgeordnete Meral Danış Beştaş und den ehemaligen Abgeordneten Murat Çepni. Die CHP reagierte auf diese Entwicklung mit dem Konzept eines „Bündnisses an der Basis“, was sie als Türkei- Bündnis (Türkiye İttifakı) bezeichnet. Sie will damit Wähler:innen anderer Parteien dazu bewegen, insbesondere in Istanbul zumindest für die Oberbürgermeisterwahl den CHP-Kandidaten Ekrem İmamoğlu erneut zu unterstützen.
Beim Regierungsbündnis dagegen verlief die Bestimmung der Kandidat:innen weitgehend unspektakulär. Erdoğans AKP und die rechts-nationalistische MHP einigten sich frühzeitig auf eine Zusammenarbeit, nur eine Kooperation mit der konservativ-islamistischen Neuen Wohlfahrtspartei (YRP) gelang nicht. In den 30 Metropolen wird die MHP die AKP-Oberbürgermeisterkandidat:innen unterstützen, mit Ausnahme von Manisa und Mersin, wo die AKP die beiden Kandidaten der MHP unterstützt. In 29 der verbleibenden 51 Provinzen treten die beiden Parteien als Verbündete an.
In Istanbul hat sich die AKP für Murat Kurum, den früheren Minister für Stadt, Umwelt und Klimawandel, als Oberbürgermeisterkandidaten entschieden. Kurum, der vor seinem Ministeramt beim staatlichen Wohnungsbauunternehmen TOKI tätig war, gilt als Bauexperte. Unter dem Vorzeichen der Erdbebensicherheit gehört zu seinen Wahlversprechen, in seiner fünfjährigen Amtszeit 650.000 neue Wohnungen zu errichten. Ein schweres Bergbauunglück Mitte Februar traf ihn jedoch zur Unzeit, denn noch vor einem Jahr war er für die Aufsicht und Betriebserlaubnis solcher Bergwerke mitverantwortlich.
Doch was den Ausgang der Istanbul-Wahl wirklich ungewiss macht, ist die hohe Zahl der Kandidat:innen. Zusammen mit den unabhängigen Kandidat:innen gibt es mehr als fünfzig Anwärter:innen für den Oberbürgermeisterposten. Da die Wahl mit einer einfachen Mehrheit erfolgt, kann der stärkste Kandidat oder die stärkste Kandidatin mit einem verhältnismäßig geringen Anteil der Stimmen gewinnen, wenn sich diese auf viele verschiedene Kandidat:innen verteilen. Vor allem für die Opposition könnte dies entscheidend sein: Schon 2019 gewann der Oppositionskandidat Ekrem İmamoğlu zunächst nur mit einer Mehrheit von rund 21.000 Stimmen (von insgesamt über acht Millionen). Diese Mehrheit erreichte er mit einer Allianz aus CHP und İyi-Partei und der indirekten Unterstützung der links-kurdischen HDP, die auf die Aufstellung eines eigenen Kandidaten oder einer eigenen Kandidatin verzichtet hatte. Damit lag İmamoğlu nur knapp vor dem AKP-Kandidaten Binali Yıldırım (48,8 Prozent zu 48,6 Prozent).
Demgegenüber steht der unbedingte Wille von Staatspräsident Erdoğan, Istanbul bei dieser Kommunalwahl zurückzugewinnen. Mehrfach hat er betont, dass dies eines seiner wichtigsten Ziele bei der Wahl sei. Dabei geht es ihm sowohl um die symbolische Bedeutung der Stadt als Startpunkt seiner eigenen politischen Karriere als auch um die enormen Ressourcen der Metropole. Doch angesichts des knappen Wahlausgangs 2019 kommt ihm das Scheitern der Bündnisverhandlungen mit der YRP ungelegen. Die Partei hatte bei den Wahlen im vergangenen Jahr landesweit ein beachtliches Stimmaufkommen von mehr als 1,5 Mio. erzielt, das vor allem auf frühere AKP-Wähler:innen zurückgeführt wird.
Während in Istanbul Umfragen darauf hindeuten, dass es erneut einen knappen Wahlausgang gibt, gilt in Ankara der amtierende CHP-Bürgermeister Mansur Yavaş als deutlicher Favorit. Ihm steht Turgut Altınok, der AKP-Bürgermeister des Ankara-Stadtbezirks Keçiören, gegenüber. Beide gelten als nationalistische Politiker, doch auch hier könnte sich die Kandidatur von Suat Kılıç von der YRP als Nachteil für den AKP-Kandidaten erweisen.
Der Kommunalwahlkampf wird ebenso mit den Themen der politischen Auseinandersetzungen auf nationaler Ebene wie mit kommunalen und lokalen Projekten geführt. Das Regierungsbündnis beispielsweise spielt immer wieder die Sicherheitsfrage aus. So warf beispielsweise Murat Kurum der DEM vor, mit ihrem Auswahlprozess des Stadtkonsenses nichts anderes als eine Anordnung der PKK umzusetzen. Weil große Teile der Türkei erdbeben- gefährdet sind, spielen auch die Stadtsanierung und der Katastrophenschutz in vielen Städten eine Rolle.
Ein weiterer Schwerpunkt sind soziale Projekte. Während seiner Amtszeit hat Ekrem İmamoğlu die städtischen Brotbäckereien in Istanbul ausgebaut, die Backwaren zu günstigen Preisen abgeben. Die Stadtlokale bieten warmes Essen ebenfalls zu guten Preisen an. Für Rentner:innen und Studierende werden verschiedene Programme aufgelegt. Dazu gehört für Rentner:innen die kostenlose Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs, für Studierende Unterstützungen wie Stipendien, vergünstigtes Essen und kommunale Wohnheime. Zur Förderung der Frauenbeschäftigung sollen kommunale Kindergärten ausgebaut werden. Insbesondere während der Pandemie hatten sich die Metropolen auch der Landwirtschaft zugewandt. Während auf der einen Seite das Ziel besteht, die Lieferwege für frisches Gemüse an die Großstädte zu verkürzen, wurden verschiedene Projekte zur Entwicklung der Dörfer und Förderung der Landwirtschaft aufgelegt.
Doch sind all dies Punkte, die nicht allein von der CHP und in Istanbul, sondern in vielen Städten von unterschiedlichen Parteien vorgetragen werden. Auch Transparenz und eine beteiligungsorientierte Stadtpolitik haben sich fast alle Parteien zum Ziel gesetzt. Die Unterschiede der Parteien zeigen sich vor allem bei einzelnen Zielgruppen (z.B. Frauen, arbeitslose Jugendliche und junge Erwachsene, Aleviten, Kurden) sowie bei kulturellen Angeboten. Während AKP und MHP nationale Werte sowie den Schutz der Familie in den Mittelpunkt stellen, steht bei der CHP sozialer Ausgleich, bei der DEM wiederum stärker die Anerkennung unterschiedlicher Kulturen und Religionen im Fokus.
Neben inhaltlichen Themen wird auch an der Diskreditierung des politischen Gegners gearbeitet. Die Streitereien in der CHP und die Schuldzuweisungen der İyi-Partei gegen die CHP werden von AKP-Politiker:innen genüsslich aufgegriffen und in einen politischen Vorteil umgemünzt. Sie stellen implizit die Kompetenzfrage, wenn sie fragen, was von Politiker:innen zu halten sei, die gestern noch Verbündete waren und heute damit beschäftigt seien, sich gegenseitig zu „erdolchen“.
Auch wenn es sich um eine Kommunalwahl handelt, setzt die AKP im Wahlkampf insbesondere auf Staatspräsident Erdoğan, der im Zeitraum von zwei Monaten 50 Provinzen besuchen will. Dabei wirbt er unter anderem mit dem Argument, dass für ein erfolgreiches Kommunalmanagement eine enge Zusammenarbeit mit der Regierung hilfreich ist.
Von der Opposition wird ihm jedoch vorgeworfen, er versuche die Wählerschaft zu erpressen, wenn er beispielsweise bei einer Rede in Ordu erklärte, dass die Stadt ohne eine AKP-Führung kein Erdgas erhalten werde, oder in Hatay implizit droht, dass keine Investitionen durch die Zentralregierung in die oppositionsgeführte und stark vom Erdbeben getroffene Kommune fließen werden.
Dass die Endphase des Wahlkampfes in den Fastenmonat Ramadan fällt, hat für die Akteure Vor- und Nachteile. Während des Ramadans ist das öffentliche Leben stark von Religion geprägt. Dies könnte der AKP zu Gute kommen. Doch es ist zugleich auch der Monat, in dem beim Fastenbrechen jeden Abend ein besonderes Essen gereicht wird, zu dem auch Freund:innen und Nachbar:innen eingeladen werden. In diesem Jahr wird die Inflation viele Haushalte zu schmerzlichen Einsparungen zwingen, wofür die regierende AKP verantwortlich gemacht werden dürfte.
Obgleich am 3. März 2024 die Kandidat:innenlisten Rechtskraft gewonnen haben, sind Überraschungen nicht ausgeschlossen. Nach wie vor können Kandidat:innen zurücktreten und ihre Anhänger:innen aufrufen, für einen anderen Kandidaten oder eine andere Kandidatin zu stimmen. Auch wenn sich Umfragen zufolge auf nationaler Ebene kaum etwas an den beiden etwa gleich großen Blöcken von Regierungsanhänger:innen und Opposition geändert hat, sind an vielen Orten auf kommunaler Ebene Veränderungen möglich. In Izmir beispielsweise steht die jahrzehntelange Dominanz der CHP auf der Kippe, in Bursa als einer traditionellen Hochburg der AKP wiederum hat die CHP eine Chance auf eine Mehrheit. Entscheidend für den Ausgang dürften hier das Abschneiden der kleineren Parteien und unabhängigen Kandidat:innen sein.
Nach ihren Wahlerfolgen von 2019 geht es für die größte Oppositionspartei CHP bei dieser Wahl vor allem darum, bei den letzten Wahlen gewonnene Kommunen zu halten und vielleicht noch einige hinzuzugewinnen. Die links-kurdische DEM will mindestens all jene Kommunen zurückgewinnen, die sie bereits 2019 gewann, die jetzt jedoch von durch die Zentralregierung eingesetzte kommissarische Bürgermeister:innen regiert werden. Doch sowohl für die DEM als auch für die İyi-Partei bildet auch das politische Kräfteverhältnis nach der Kommunalwahl wesentlichen Teil ihrer Strategie.
Wie schon bei der Parlaments- und Präsidentschaftswahl ist an vielen Orten mit knappen Wahlergebnissen zu rechnen. Auch bei dieser Wahl ist die Ausgangslage im Wahlkampf höchst ungleich: Ein Großteil der Medien ist regierungsnah, der Opposition gelingt es dort kaum, Präsenz zu zeigen und Botschaften zu platzieren. Wichtige Oppositionspolitiker:innen sind in Haft oder mit einem Politikverbot belegt. Hinzu kommt, dass Amtsinhaber:innen kommunale Ressourcen für ihren Wahlkampf nutzen und sich so einen Vorteil verschaffen. Dennoch sind die Wahlen alles andere als entschieden. Vor allem auf Istanbul wird mit Spannung geschaut – hier könnten die Weichen auch für die künftige politische Entwicklung der Türkei gestellt werden.
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