Die jüngsten Kommunalwahlen haben einen tiefgreifenden Wandel in der politischen Landschaft eingeleitet. Insbesondere die CHP hat einen bemerkenswerten Aufschwung erlebt. Selbst ein Jahr nach dem verheerenden Erdbeben im Südosten der Türkei sind die Auswirkungen noch immer spürbar. Die Wirtschaftspolitik konzentriert sich auf die Bekämpfung der hohen Inflation, was jedoch die ärmsten Bevölkerungsgruppen zu belasten scheint. Auf außenpolitischer Ebene war u.a. der Besuch des Bundespräsidenten Steinmeier von Bedeutung.
SCHWERE NIEDERLAGE DES REGIERUNGSBÜNDNISSES BEI DEN KOMMUNALWAHLEN
Bei den Kommunalwahlen konnte die Opposition trotz aller Schwierigkeiten wichtige Siege erringen. Zum ersten Mal seit 2001 wurde die AKP nicht stärkste Partei, während die CHP ihr bestes Ergebnis seit den 1970er Jahren erzielte. Die AKP verlor viele Bürgermeister:innenposten, während die CHP in wichtigen Kommunen gewann. Besonders hervorzuheben sind die Wiederwahl von Ekrem Imamoğlu in Istanbul und mehrere unerwartete Siege der CHP in bisherigen AKP-Hochburgen.
DIE WAHLERGEBNISSE
Die Ausgangssituation für die Opposition war schwierig bei der Kommunalwahl vom 31. März 2024. Das Bündnis von sechs Parteien war zerfallen und die kurdisch-linke DEM hatte sich entschieden, auch in den westlichen Metropolen eigene Bürgermeisterkandidatinnen und -kandidaten aufzustellen. Doch trotz des Einsatzes staatlicher Mittel und gegen sie gerichteter Manipulationsvorwürfe wurde die AKP erstmals seit ihrer Gründung 2001 nur zweitstärkste Partei. Die CHP dagegen verzeichnete mit landesweit 37,1 Prozent der Stimmen das beste Ergebnis seit den 1970er Jahren und durchbrach die Marke von 24 Prozent, an der sie bei mehreren vorherigen Wahlen wie festgekettet blieb. Einen weiteren Eindruck gibt die Gesamtbilanz für die AKP. Diese hatte bei der Kommunalwahl 2019 in 15 Großstädten, 24 Provinzhauptstädten, 535 Kreisstädten und 202 Gemeinden den Bürgermeister gestellt. Verfügte sie 2019 über insgesamt 776 Bürgermeister, so sind es nach dieser Wahl nur noch 507. Sie verlor 3 Metropolen, 12 Provinzhauptstädte, 176 Kreisstädte und 78 Gemeinden. Neben der Anzahl der Kommunen unterstreicht auch die Bedeutung der gewonnenen Kommunen den Wahlsieg der CHP. So leben in den von der CHP gewonnenen Kommunen 62 Prozent der Bevölkerung und der Anteil dieser Kommunen am BIP beträgt 82 Prozent.
Vor der Wahl richtete sich der Blick vor allem auf Istanbul. Die Wiederwahl von Ekrem Imamoğlu war von hoher Bedeutung für den weiteren politischen Verlauf – nicht nur für die Metropole, sondern auch, weil Imamoğlu als aussichtsreicher Herausforderer für Staatspräsident Erdoğan auf nationaler Ebene gilt. Imamoğlu gewann die Wahl mit 51,09 Prozent klar gegen den früheren AKP Minister für Stadt und Umwelt, Murat Kurum. Mit den Erfolgen der CHP in den Istanbuler Stadtbezirken errang er zudem eine klare Mehrheit im Rat der Metropole.
Doch die eigentliche Überraschung war, dass die CHP auch weitere Metropolen sowie Provinzen gewann, die als Hochburgen der AKP galten. Sie konnte sich damit erstmals seit Jahrzehnten wieder in West- und Mittelanatolien durchsetzen.
Ein zweites wichtiges Ergebnis war das Abschneiden der Neuen Wohlfahrtspartei (YRP), die von Fatih Erbakan, Sohn des Gründers des Milli Görüş Necmettin Erbakan, geführt wird. Die YRP wurde landesweit zur drittstärksten Partei. In der Großstadt Şanlıurfa stellt sie den Oberbürgermeister und gewann außerdem die Provinzhauptstadt Yozgat.
BÜNDNIS AN DER BASIS
Mit der Entscheidung der nationalistischen İYİ-Partei, das Oppositionsbündnis zu verlassen und mit eigenen Bürgermeisterkandidaten anzutreten, war das Bündnis von CHP und İYİ-Partei, das bis 2017 zurückreicht, zerbrochen. Zugleich erklärte auch die DEM mit eigenen Bürgermeisterkandidaten anzutreten. Da sowohl die İYİ-Partei als auch die HDP als Vorgängerin der DEM wesentlich zum Wahlsieg in Istanbul und Ankara bei der Kommunalwahl 2019 beigetragen hatten, sah sich die CHP nunmehr auf sich allein gestellt. Sie vertrat die Position, dass wenn schon kein Bündnis zwischen Parteien möglich ist, dieses an der Basis hergestellt werden müsse.
Die Kommunalwahl erfolgt nach Personenwahl für die Bürgermeister:innen und Verhältniswahl für die Stadträte. Die Personenwahl führt dazu, dass sich Wähler:innen auf die größeren Parteien konzentrieren. Beim Regierungsbündnis, das mit Ausnahme der YRP intakt blieb, wurde zudem in einigen Städten abgesprochen, welche Partei in welcher Stadt Kandidat:innen aufstellt.
Das Wahlergebnis zeigt, dass das Mehrheitsprinzip bei der Bürgermeister:innenwahl das von der CHP angestrebte Bündnis an der Basis gefördert hat. Die Wähler:innen haben sich stärker an den Oppositionskandidat:innen orientiert als an den Parteien, denen sie anhängen. Hinzu kommt der Wunsch nach einem Wandel, der Anhänger:innen der Opposition stärker motivierte, an der Abstimmung teilzunehmen als jene der Regierungsparteien.
Auffällig am Ergebnis der Wahl vom 31. März 2024 ist zunächst die geringe Wahlbeteiligung. Hatte diese im Mai 2023 bei der Parlaments- und Präsidentschaftswahl bei 87 Prozent gelegen, so fiel sie bei dieser Wahl auf 76 Prozent. Im Vergleich zur Kommunalwahl 2019 fällt auf, dass Nichtwähler:innen und ungültige Stimmen zusammen ein Niveau von 15 Mio. erreichen. Die AKP verlor 4,2 Mio. Stimmen, die İYİ-Partei 1,7 Mio. und die MHP 1,1 Mio. Stimmen. Demgegenüber erhielt die CHP 3,3 Mio. mehr Stimmen, die YRP 2,8 Mio. und DEM 639.000 zusätzliche Stimmen.
Ein wesentlicher Faktor bei dieser Wahl war, dass es der CHP besser gelang als AKP und MHP ihre Anhänger:innen zur Wahlbeteiligung zu motivieren. Dies wird nicht zuletzt auf eine wachsende Unzufriedenheit mit den Lebensbedingungen zurückgeführt.
WARUM NICHT 2023?
Wenn verschlechterte Lebensbedingungen ein wichtiger Faktor für den Wahlausgang waren, so stellt sich die Frage, was sich seit der Parlaments- und Präsidentschaftswahl im Mai 2023 verändert hat. Hohe Inflation begleitet die Menschen bereits seit dem Übergang zum Präsidialsystem 2018. Auch mangelnde Transparenz und damit Unvorhersehbarkeit des Alltags waren bereits vor einem Jahr gegeben.
Doch Inflation und verschlechterte Kaufkraft haben in den zehn Monaten zwischen beiden Wahlen beträchtlich zugenommen. War es der Regierung im Mai 2023 noch gelungen, zumindest die offizielle Inflation auf 39,59 Prozent zu senken, so lag sie im März 2024 bei 68,50 Prozent. Die Regierung reagierte darauf mit einer starken Anhebung von Mindestlohn und Mindestrente. Während des Wahlkampfes in diesem Jahr wurde außerdem erwartet, dass noch vor der Abstimmung eine weitere Erhöhung der Mindestrente vorgenommen wird. Dass dies unterblieb, hat nicht zuletzt damit zu tun, dass die hohen Mehrausgaben der Wahl in 2023 bereits zu einer starken Belastung des Haushalts geführt hatten und darum kein Spielraum für eine Rentenerhöhung vorhanden war.
Anfang des Jahres war die Mindestrente auf 10.000 TL angehoben worden. Doch nach Berechnungen des Gewerkschaftsbundes Türk İş belaufen sich allein die Lebenshaltungskosten für eine Person auf 21.831 TL pro Monat. Der Mindestlohn, den ca. 40 Prozent der Beschäftigten bekommen, war auf 17.002 TL angehoben worden, doch auch dieser Zuwachs ist inzwischen durch die Inflation aufgefressen. Hinzu kommt, dass Finanzminister Mehmet Şimşek darauf drängt, mit dem Ziel der Inflationsbekämpfung auf eine weitere Erhöhung des Mindestlohns im zweiten Halbjahr zu verzichten. Nicht zuletzt, weil Mindestlohn und Mindestrente, die für Millionen von Menschen die Erwerbsquelle darstellen, nicht ausreichen, um den Lebensunterhalt zu bestreiten, kam es zu einer schnellen Ausweitung des Kreditvolumens. Die Politik der Zinserhöhungen und der Einschränkung der Kreditvergabe durch die Banken versperrt jedoch auch diesen Weg. Hinzu kommt ein sehr starker Anstieg der Mieten, zu dem auch die Wohnungsknappheit nach dem Erdbeben im Februar 2023 beigetragen hat.
Es würde jedoch zu kurz greifen, das Wahlergebnis allein auf die verschlechterten wirtschaftlichen Bedingungen zurückzuführen. Die AKP zeigt deutliche Verschleißerscheinungen, was sich nicht zuletzt bei der Auswahl ihrer Kandidat:innen bemerkbar machte. Zieht man als Beispiel Istanbul heran, so war Murat Kurum dem amtierenden Bürgermeister Imamoğlu rhetorisch nicht gewachsen und musste sich aufgrund von Versprechern einigen Spott gefallen lassen.
War es bisher der AKP stets gelungen, sich als Volkspartei zu präsentieren, fällt die wachsende Distanz zum Volk in ihren Diskursen immer stärker auf. In dem Maße, in dem Staat und Partei miteinander verschmelzen, steigt die Distanz. Deutlich wurde dies etwa, als Murat Kurum über seinen Rivalen Imamoğlu sagte, dieser eigne sich bestenfalls als Boulettenverkäufer. Hier zeigt sich eine Arroganz gegenüber kleinen Gewerbetreibenden, die traditionell eine Basis der AKP darstellen.
EINE VERÄNDERTE POLITISCHE LANDSCHAFT
Nach der Niederlage bei der Präsidentschaftswahl 2023 hatte sich in der Opposition Resignation breit gemacht. Verstärkt wurde diese Stimmung zudem durch die parteiinternen Auseinandersetzungen bei der CHP. Zwar brachte Özgür Özel als neuer Vorsitzender etwas Auftrieb, doch wurde dies durch einen zähen Prozess der Kandidatenermittlung für die Kommunalwahl schnell wieder aufgebraucht. Mit dem Erfolg bei der Kommunalwahl ist nicht nur ein Stimmungsumschwung verbunden. Die CHP regiert nun die größten Städte des Landes und Ekrem Imamoğlu gilt als Favorit für die Präsidentschaftswahl 2028.
Der Bruch des Oppositionsbündnisses („Sechsertisch“) hat der CHP neuen politischen Spielraum eröffnet. Ein Beispiel ist der Konflikt um den Wahlausgang in der Provinzhauptstadt Van. Hier hatte der DEM-Kandidat Abdullah Zeydan die Wahl mit einem Vorsprung von 130.000 Stimmen gewonnen. Doch auf Initiative des Justizministeriums wurde ihm unmittelbar nach der Wahl gerichtlich die Wählbarkeit abgesprochen. Der Wahlrat der Provinz weigerte sich darum, Zeydan als Bürgermeister zu berufen und wollte das Mandat an den unterlegenen AKP-Kandidaten geben. Dies löste Proteste in Van und dreizehn weiteren Provinzen aus, die von der Polizei aufgelöst wurden. Özgür Özel kritisierte die Entscheidung des Wahlrates der Provinz und entsandte eine CHP-Delegation in die Stadt, die sich den Protesten anschloss. Eine solche Entscheidung wäre im Bündnis mit der İYİ-Partei nicht möglich gewesen, weil diese der DEM ein ungeklärtes Verhältnis zur PKK unterstellt. Die Krise wurde mit der Entscheidung des Hohen Wahlrates, Zeydan als Bürgermeister von Van zu bestätigen, beigelegt.
Die DEM konnte ihre Wahlziele in den Südost-Provinzen weitgehend erreichen, erhielt im Westen der Türkei jedoch nur wenige Stimmen. Es ist offensichtlich, dass ihre Basis in den westlichen Metropolen der Entscheidung ihrer Partei mit eigenen Bürgermeisterkandidaten anzutreten, nicht gefolgt ist. Offen bleibt nun, ob erneut die DEM Bürgermeister:innen durch das Innenministerium abgesetzt und an ihrer Stelle Zwangsverwalter:innen eingesetzt werden.
Für die İYİ-Partei stellt das Ergebnis der Kommunalwahl eine politische Erschütterung dar. Bereits im Herbst hatten zahlreiche Spitzenpolitiker:innen den Bruch des Bündnisses nicht mitgetragen und waren ausgetreten. Die Vorsitzende Meral Akşener berief daraufhin einen Parteitag für den 27. April 2024 ein, auf dem sie nicht mehr für den Vorsitz kandidierte. Neuer Vorsitzender wurde Müsavat Dervişoğlu, der als Vertrauter der ehemaligen Vorsitzenden gilt. Dervişoğlu wurde erst im dritten Wahlgang knapp gewählt, was die Probleme der Partei weiter verschärfen dürfte. Ebenso wichtig wie die Frage nach der neuen Führung dürfte jedoch sein, wie sich die Partei positioniert. Angetreten war die İYİ-Partei bei ihrer Gründung 2017 mit dem Anspruch, eine Alternative zu AKP und MHP zu sein und so das rechte Zentrum zu besetzen. Bei den parteiinternen Auseinandersetzungen nach den Wahlen von 2023 verblieben jedoch vor allem frühere MHP-Politiker:innen in der Partei.
Für die im Parlament vertretenen kleineren Parteien – DEVA, Gelecek und Saadet, aber auch die Türkische Arbeiterpartei (TIP) – stellt sich aufgrund ihrer geringen Erfolge die Frage ihres langfristigen Überlebens.
Wurde die Parlaments- und Präsidentschaftswahl 2023 als ein Sieg nationalistischer Positionen bewertet, so wird der Ausgang der Kommunalwahl von einigen Kommentator:innen als eine Niederlage der nationalistischen Parteien bewertet. In den letzten Jahren manifestierte sich der politische Nationalismus vor allem in Ideen einer von Feinden eingekreisten Türkei. Hinzu kam das Beschwören des nationalen Geistes gegen die inneren Feinde, an deren Spitze die PKK stehe. Da es sich um Terroristen handele, müsse gegen sie militärisch vorgegangen werden – auch im Ausland. HDP und heute DEM sind in diesem Weltbild Tarnorganisationen der PKK, mit denen jede Berührung vermieden werden müsse. Ergänzt wird dieses Politikmuster in den letzten Jahren um eine Ablehnung syrischer und afghanischer Migrant:innen. Schaut man nun nicht allein auf das Stimmaufkommen der Parteien, sondern auch auf Personen und Positionen, wirkt die These eines politischen Stimmungswechsels weniger plausibel.
Die CHP ist in einigen Städten mit Kandidat:innen angetreten, die zuvor in der ultranationalistischen MHP Politik gemacht hatten. In Afyonkarahisar hatte die CHP Bürgermeisterkandidatin Burcu Köksal erklärt, ihre Tür werde allen offen stehen, mit Ausnahme der DEM und der Hüda-Par. Da beides Parteien mit überwiegend kurdischer Basis sind, brachte ihr dies den Vorwurf der Diskriminierung ein. Doch ein Blick in die Lokalpresse zeigte, dass sich der Wahlkampf in Afyon auf die Ausgrenzung der DEM konzentrierte, der alle übrigen Parteien Verbindungen zur PKK unterstellten. Özgür Özel stellte klar, dass CHP-geführte Kommunen für alle da seien, Burcu Köksal dagegen beharrte auf ihrer Position und wurde mit 50,73 Prozent in der AKP-Hochburg gewählt.
Die Neue Wohlfahrtspartei (YRP) und ihr Vorsitzender Fatih Erbakan gingen gestärkt aus der Kommunalwahl hervor. Die YRP war bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im Regierungsbündnis angetreten. Ideologisch gibt sie sich konservativ-religiös, aber auch patriotisch. Bei der Kommunalwahl hat sie bewiesen, dass sie für AKPWähler:innen attraktiv ist. Und mit ihrer Kritik an der Israel-Politik hat sie über die Kommunalwahl hinaus bereits bewiesen, dass sie politisch wirksam ist. Nur wenige Tage vor der Wahl hatte Fatih Erbakan erklärt, seine Partei werde ihre Kandidat:innen zurückziehen, wenn die Regierung ein Embargo gegen Israel verhänge und die NATO-Radarstation in Kürecik schließe, die vor allem der Sicherheit Israels diene. Kurz nach der Kommunalwahl entschied die Regierung ein Ausfuhrverbot für 54 Produkte nach Israel.
Die AKP und die MHP halten sich angesichts des Wahlergebnisses vorerst zurück. Sie hatten im Wahlkampf darauf gesetzt, die CHP zusammen mit der DEM als „Terrorbündnis“ darzustellen. Und die AKP reklamierte die Kommunalpolitik zu ihrer Kernkompetenz. Staatspräsident Erdoğan hatte seit Februar täglich Kundgebungen abgehalten, auch die Minister wurden als Wahlkämpfer eingesetzt. Dieser geballte Einsatz staatlicher Ressourcen wird in den eigenen Reihen von der Selbstkritik aufgegriffen, dass es vor allem die zunehmende Abgehobenheit von der Basis ist, die einen Wahlsieg verhindert.
Staatspräsident Erdoğan hatte erklärt, dass dies der letzte Wahlkampf sei, den er führen werde. Er befindet sich in seiner offiziell zweiten Amtszeit und kann nur dann ein weiteres Mal kandidieren, wenn sich das Parlament auflöst und es zu vorzeitigen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen kommt. Doch die Hürde dafür ist hoch, ohne die Zustimmung der Opposition wird die erforderliche Mehrheit nicht erreicht. Ob die Kommunalwahl Vorbote des Endes der Ära Erdoğan ist, lässt sich nicht vorhersagen. Die nächste Wahl steht regulär 2028 an. Ob der Wandlungsprozess in der CHP weitergeführt wird, bleibt offen. Ob ein solcher Prozess in der AKP beginnt, die sich auf die Post-Erdoğan Ära einstellen muss, ist ebenfalls nicht erkennbar. Grundsätzlich ist jedoch das Machtmonopol des Regierungsbündnisses erschüttert. Vor allem die CHP hat die Chance, Kompetenz zu zeigen. Da die beträchtlichen Werbeetats der Kommunen auch einen Beitrag zur Finanzierung von Medien darstellen, dürfte auch hier die Regierungsdominanz erschüttert werden. Inwiefern dies einem Wandel an der Spitze von Staat und Regierung Vorschub leistet, ist dennoch nicht eindeutig absehbar.
Die Lebensbedingungen der Bevölkerung könnten sich bis 2028 wieder verbessert haben. Doch dies allein dürfte nicht ausreichen, um die Fortsetzung der Macht der AKP zu gewährleisten. Der CHP ist es gelungen, mit Özgür Özel, Ekrem Imamoğlu und Mansur Yavaş neue Gesichter in die Politik einzubringen, die alle bewusst auf zu starkes Lagerdenken und polarisierende Rhetorik verzichten. Die CHP hat darum die besseren Voraussetzungen, Aufbruchsstimmung zu verbreiten, die für den nötigen Erfolg in der Kommunalpolitik erforderlich ist, um dann auch auf nationaler Ebene zu einer neuen Herausforderung für die AKP zu werden.
Die Erdbeben von 2023 bei Kahramanmaraş haben in der Türkei und in Syrien erhebliche Schäden verursacht und Todesopfer gefordert. Ein Jahr später sind Normalität und Wiederaufbau trotz Versprechungen der Regierung noch lange nicht erreicht. Viele Menschen leben immer noch in Zelten und Containern, während Gesundheits- und Umweltprobleme fortbestehen. Die Erdbeben haben eine massive Binnenmigration ausgelöst, die in den betroffenen Städten zu Infrastrukturproblemen und steigenden Mieten geführt hat.
JAHRESTAG DES ERDBEBENS
Als am 6. Februar 2023 zwei Erdbeben der Stärke 7,5 und 7,8 auf der Richterskala mit Zentrum in der Provinz Kahramanmaraş elf türkische Provinzen erschütterten, kamen 50.783 Menschen ums Leben. Auch Syrien wurde getroffen, dort starben 8.476 Menschen. Die große Ausdehnung des Katastrophengebietes erschwerte die Hilfsmaßnahmen. Aber auch Organisationsmängel und der Versuch, die Hilfsmaßnahmen allein durch den Katastrophenschutz AFAD, den Roten Halbmond und islamische Hilfsvereine zuzulassen, führten zum Chaos. Viele Menschen mussten miterleben, wie Angehörige unter Trümmern starben, weil keine Hilfe eintraf. Die humanitäre Hilfe für die Überlebenden kam nur schwer in Gang.
Auch ein Jahr nach der Katastrophe ist die Normalität nicht in das Erdbebengebiet zurückgekehrt. 35.000 Gebäude stürzten ein, fast 300.000 wurden schwer beschädigt. Vielerorts wurde die Infrastruktur zerstört. Zwar versprach die Regierung ein groß angelegtes Wiederaufbauprogramm, mit dem binnen eines Jahres obdachlosen Erdbebenopfern geholfen werden sollte. Doch angesichts der großen Zahl zerstörter Häuser sind selbst die Abrissarbeiten noch nicht abgeschlossen.
Während es Wochen dauerte, bis für die Obdachlosen wenigstens ein Zelt bereitgestellt werden konnte, wurden für die Übergangszeit Containerstädte eingerichtet. Gleichwohl leben viele Familien nach wie vor in Zelten.
Gerade die Abrissarbeiten stellten in den Monaten nach den Beben eine schwere Belastung für die Menschen in der Region dar. Es wurde über den Staub geklagt und die Kammer der Umweltingenieure stellte fest, dass vielfach die Vorschriften zum Arbeits- und Umweltschutz nicht eingehalten wurden. Ein anderes Problem ist die enorme Menge Bauschutt, der häufig nicht vorschriftsgemäß entsorgt wurde. Da die Verwendung von Asbest in Baustoffen erst 2011 vollständig untersagt wurde, wird vermutet, dass es bei den Abrissarbeiten zu einer hohen Asbestbelastung gekommen ist, deren Folgen sich erst Jahre später zeigen werden.
Die Gesundheitsgewerkschaft und die Ärztekammer haben in den Bezirken Samandağ, Antakya und Defne der Provinz Hatay eine Studie mit 564 Kindern im Alter von unter fünf Jahren durchgeführt. Diese zeigt, dass bei 6,2 Prozent der Kinder eine Retardierung im Wachstum, bei 8,9 Prozent Untergewicht und bei 4,4 Prozent Übergewicht wegen schlechter bzw. Mangelernährung festgestellt wurden. Nur 33,5 Prozent der Familien haben regelmäßigen Zugang zu Nahrungsmitteln. 76,3 Prozent der Familien haben keinen sicheren Arbeitsplatz und 56,7 Prozent verfügen über kein regelmäßiges Einkommen. Fast die Hälfte der Familien hat keinen oder nur unzureichenden Zugang zu Wasser. Die Studie führt dies auf mangelnde, unzulängliche Wasserverteilung sowie Wasserausfälle zurück.
Die Erdbeben zeigten Auswirkungen weit über die unmittelbar betroffene Region hinaus. Insbesondere Ankara hat eine hohe Zuwanderung aus dem Erdbebengebiet erfahren. Gestützt auf den gestiegenen Wasserverbrauch geht Ankaras Oberbürgermeister Yavaş davon aus, dass sich die Wohnbevölkerung um 600.000 Menschen vergrößert hat. Dies wirft bedeutende Infrastrukturprobleme auf und hat zu einem starken Mietanstieg in der Metropole geführt.
In einer ersten Phase sollen 319.000 Wohnungen errichtet werden, von denen bis August 2023 107.000 begonnen wurden. Insgesamt sollen 680.000 Wohnungen gebaut werden. Bereits im August konnten zudem 3.400 Gewerbestätten übergeben werden. Im März 2024 erreichte die Zahl der fertiggestellten Wohnungen für Erdbebenopfer 46.000. Für den Wiederaufbau werden schätzungsweise 46 Mrd. Dollar aufgewendet. Gleichwohl gab es einige Kritik über die Vergabe der Bauaufträge, bei denen deutlich Richtpreise überschritten wurden. Der Gesamtschaden wird von der UN auf 100 Mrd. Dollar geschätzt.
Unumstritten ist der schnelle Wiederaufbau nicht. Geologen wenden ein, dass nach dem Erdbeben erst eine gründliche Überprüfung der seismischen Aktivitäten in der Region erforderlich ist. Bauingenieure wiederum weisen darauf hin, dass die Nachbeben die Härtung von Beton beeinträchtigen können. Auf der anderen Seite ist jedoch auch bekannt, dass ohne einen unverzüglichen und schnellen Wiederaufbau kaum zu erreichen ist, dass vorübergehend Abgewanderte wieder zurückkehren.
Zwar hatte die Türkei nach den schweren Marmara-Erdbeben von 1999 die Bauvorschriften unter dem Gesichtspunkt höherer Erdbebensicherheit reformiert, doch stellte sich 2023 heraus, dass auch Neubauten eingestürzt waren. Als Ursachen werden ungeeigneter Baugrund, Planungsfehler, mangelhaftes Baumaterial und Ausführungsfehler genannt, die eigentlich gemäß dem geltenden Baurecht ausgeschlossen sein sollten. Dass dies auf die Unzulänglichkeit der neuen Bauvorschriften zurückgeführt werden könnte, erscheint unwahrscheinlich. Die Berufskammer der Bauingenieure hatte nach einem Erdbeben in Bolu, das zwanzig Jahre zuvor große Erdbebenschäden erlitten hatte, festgestellt, dass die Gebäudeschäden an Neubauten gering waren. Vermutlich hatte die Erinnerung an das Erdbeben von 1999 zu einer strikteren Befolgung der Vorschriften geführt.
Die gerichtliche Aufarbeitung der zahlreichen Vorwürfe gegen Bauunternehmen, Ingenieure und Bauaufsichtsunternehmen hat zwar begonnen, steht jedoch noch in einer recht frühen Phase. Im Januar 2024 wurde erstmals auch ein städtischer Bauaufsichtsdirektor in einem Sachverständigengutachten beschuldigt, maßgeblich für den Einsturz eines Hauses verantwortlich zu sein. Aufgrund des Verbots privatwirtschaftlicher Tätigkeit im öffentlichen Dienst soll er zum Schein seinen Bruder als Bauherren ausgegeben haben. Die Sachverständigen werfen ihm vor, die Kontrolle der Baustelle unterbunden zu haben.
Gegen politisch Verantwortliche, die durch falsche Planungsentscheidungen und die Tolerierung von vorschriftswidrigen Gebäuden maßgeblich zum Ausmaß der Katastrophe beigetragen haben, wurde bisher keine Klage erhoben. Gleichwohl gab es bei der Kommunalwahl zumindest politische Konsequenzen. In Adıyaman errang die CHP nach Jahrzehnten erstmals wieder den Bürgermeisterposten der Provinzhauptstadt. Dagegen konnte sich der CHP-Oberbürgermeister von Hatay Lütfü Savaş nicht durchsetzen. Hatay ist damit die einzige Metropole, die die CHP an die AKP verloren hat.
Ein großes Problem für die gerichtliche Aufarbeitung ist die Beweislage. In vielen Gutachten wird darauf hingewiesen, dass wesentliche Daten nicht zur Verfügung standen. Teilweise wurden an den Einsturzstellen keine Messungen durchgeführt und keine Materialproben entnommen, teilweise wurden sie den Gutachter:innen einfach nicht übermittelt. Bei der Vielzahl der zu untersuchenden Gebäude sind diese Versäumnisse zwar verständlich, können aber eine Strafverfolgung verhindern.
Die Erdbeben vom 6. Februar 2023 haben landesweit die Sensibilität für das Erdbebenrisiko verstärkt. Dies gilt insbesondere für Istanbul, das in besonders hohem Maße gefährdet ist, von einem starken Erdbeben betroffen zu werden. Vor diesem Hintergrund hat die Regierung ein Gesetz durchgesetzt, das die Stadtsanierung beschleunigen soll. Neben Verfahrensverkürzungen ist insbesondere umstritten, dass auch ungefährdete Gebäude im Zuge eines Projekts enteignet und abgerissen werden können. Hinzu kommt, dass bei der bisherigen Praxis nicht nur Sicherheitsaspekte, sondern hohe Profitspannen für politiknahe Bauunternehmen eine Rolle spielten. Nicht zuletzt damit begründet die Metropole Istanbul, dass sie die Prioritäten bei der Stadtsanierung neu festgelegt hat.
Ob die Türkei für das nächste Erdbeben besser gerüstet ist? Allein in Istanbul rechnet Prof. Dr. Mikdat Kadıoğlu damit, dass fast 100.000 Gebäude einstürzen würden. Dabei gibt es außerdem auch in der Region um Izmir, in Antalya und in Nord-Ostanatolien bedeutenden Vorbereitungsbedarf auf bevorstehende Erdbeben.
Die Menschenrechtslage ist nach wie vor sehr angespannt, und die Exekutive setzt die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und der eigenen Gerichte nicht um.
KEINE SANKTION WEGEN KAVALA UND DEMIRTAŞ
Seit dem 1. November 2017 sitzt der Kulturmäzen Osman Kavala in Haft. Mal wurde ihm vorgeworfen, die Gezi-Park Proteste organisiert zu haben, dann soll er sich an dem Putschversuch vom Juli 2016 beteiligt haben. Im Dezember 2019 urteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, dass es keine Beweise für die gegen Kavala erhobenen Vorwürfe gebe und dass dessen Inhaftierung dazu diene, die Zivilgesellschaft einzuschüchtern.
Ende vergangenen Jahres hatte der Europarat beschlossen, der Türkei eine Frist bis Anfang 2024 zu setzen, um ein Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte zur Freilassung von Osman Kavala umzusetzen. Andernfalls sollten Sanktionen verhängt werden. Bei der Sitzung vom 12-14. März 2024 beschloss das Ministerkomitee des Europarates eine neue Verwarnung der Türkei. Aus dem Beschluss geht hervor, dass Vertretern des Europarates bei einer Besprechung mit Vertretern der Türkei mitgeteilt wurde, dass der Rechtsweg zur Freilassung Osman Kavalas nach wie vor offenstehe.
Kavalas Anwälte haben inzwischen beim Europäischen Gerichtshof ein weiteres Verfahren wegen anhaltender Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention angestrengt, das der Gerichtshof mit Priorität behandelt. Er hat der türkischen Regierung eine Frist bis Juli 2024 gesetzt, um zu der im März 2024 eingereichten Klage Stellung zu nehmen.
Ähnlich verhält es sich mit dem inhaftierten ehemaligen Co-Vorsitzenden der HDP, Selahattin Demirtaş. Auch hier hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte das Verfahren gegen ihn im Zusammenhang mit den Kobane Protesten im Oktober 2014 als politisch motiviert eingestuft und seine Freilassung angeordnet. Dennoch befindet er sich weiterhin in Haft und das Verfahren gegen ihn und über 100 weitere Angeklagte steht kurz vor dem Abschluss.
In beiden Fällen haben sich türkische Gerichte über Urteile des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte hinweggesetzt. Im Falle des Abgeordneten Can Atalay, der im Zuge der Gezi-Park-Prozesse inhaftiert wurde, missachtete der oberste Gerichtshof der Türkei gar ein Urteil des eigenen Verfassungsgerichts. Dieser hatte die Freilassung Atalays angeordnet. Dass das Ministerkomitee des Europarats angesichts dieser eklatanten Verstöße gegen rechtsstaatliche Prinzipien lediglich eine erneute Warnung aussprach, sorgte in der Türkei für Enttäuschung. Diejenigen, die sich für die Demokratie in der Türkei einsetzen, hatten sich wesentlich mehr erhofft. Das Ansehen Europas in der Türkei, das angesichts der Unterstützung des israelischen Vorgehens im Gazastreifen ohnehin schon gelitten hatte, wurde dadurch weiter beschädigt. Die fehlende Bereitschaft, angedrohte Sanktionen wegen der Missachtung der Urteile des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte tatsächlich zu verhängen, ist für viele Menschen enttäuschend.
Die wirtschaftliche Situation ist gekennzeichnet durch eine sehr hohe Inflationsrate und die Bekämpfung dieser durch sehr hohe Zinsen. Diese Entwicklung hat sehr starke Auswirkungen auf die soziale Lage vor allem der Beschäftigten und Rentner:innen.
HOHE INFLATION UND GÜRTEL ENGER SCHNALLEN
Die im Sommer 2023 eingeleitete Politik zur Senkung der Inflation hat bisher zu keinem fühlbaren Rückgang der Inflation geführt. Nach Angaben des Türkischen Statistikinstitutes betrug der Anstieg der Verbraucherpreise allein im März 3,16 Prozent. Es wird jedoch angenommen, dass die Inflation höher ist, denn nach wie vor bestehen Unterschiede zum Index der Handelskammer Istanbul, der bis vor wenigen Jahren weitgehend parallel zum Index des Statistikinstituts verlief. Im März 2024 lag der Index der Handelskammer Istanbul bei 3,9 Prozent.
Seit Juni 2023 hat die türkische Zentralbank die Zinsen schrittweise von 8,5 Prozent auf 50 Prozent erhöht. Angesichts einer Inflationserwartung von 36-42 Prozent in 2024 würde damit inflationsbereinigt ein realer Zins gezahlt. Doch bis Mai wird mit einem weiteren Anstieg der Jahresinflation gerechnet. Im März lag sie bereits bei 68,5 Prozent und wird vermutlich bis Mai auf 78 Prozent steigen. Angesichts des hohen Inflationsanstiegs nach den Wahlen im vergangenen Jahr wird damit gerechnet, dass in der zweiten Jahreshälfte die Jahresinflation deutlich zurückgeht.
Der hohe Zinsanstieg hat Folgen für kleinere und mittlere Unternehmen wie auch für private Haushalte. Zum einen haben sich sowohl private als auch gewerbliche Kredite verteuert. Zum anderen werden Banken gezwungen, den Anstieg des Kreditvolumens zu drosseln. Ziel ist eine Verringerung der Nachfrage, die zum Rückgang der Inflation beitragen soll.
Die ursprüngliche Strategie von Finanzminister Şimşek sieht vor, dass durch hohe Zinsen die Nachfrage nach Anlagen in türkischer Lira steigt und auf diese Weise die Währung stabilisiert wird. Aufgrund der engen Verbindung von Wechselkursen und Inflation würde dies auch zu einem Rückgang des Preisanstiegs führen. Dabei wird eine reale Aufwertung der türkischen Lira hingenommen, obwohl dies Wettbewerbsprobleme für türkische Exporte mit sich bringt.
Im Vorfeld der Kommunalwahlen wurde ein Teil des Preisanstiegs durch die Erhöhung des Mindestlohns und der Mindestrente sowie der Rentenprämie an den religiösen Feiertagen kompensiert. Doch Finanzminister Şimşek hat deutlich gemacht, dass diese Politik nicht fortgesetzt werde. Er fordert, dass es im Sommer keine weitere Erhöhung des Mindestlohns wie in den beiden Vorjahren geben dürfe und spricht sich gegen alle Maßnahmen zur Erhöhung der Sozialhilfe aus.
Bedenkt man, dass die Zahl der Haushalte, die Sozialhilfen erhalten von rund 3,5 Mio. 2018 auf etwa 5 Mio. in 2023 angestiegen ist, zeigt sich das Niveau der Verarmung, das seit dem Übergang zum Präsidialsystem beständig gestiegen ist.
In der Privatwirtschaft werden hohe Kreditkosten und zunehmende Schwierigkeiten bei der Erreichung von Krediten zu einem Rückgang der Geschäftstätigkeit und damit zu höherer Arbeitslosigkeit führen.
DIE LAGE DER RENTNER:INNEN
Die Zahl der Rentner:innen in der Türkei ist in den letzten Jahren stark angestiegen. Lag sie 2022 noch bei 13,9 Mio., so ist sie bis 2024 auf knapp 16 Mio. angestiegen. Hintergrund ist nicht allein die Altersstruktur der türkischen Gesellschaft, sondern auch die im vergangenen Jahr beschlossene Möglichkeit zur Frühverrentung. Doch parallel zum Anstieg der Rentenempfänger:innen wächst der Zuschussbedarf für die Sozialversicherung. Aber verglichen mit den EU Staaten sind die Rentenzahlungen in der Türkei als Anteil des BIP immer noch weit unter dem Durchschnitt. Während der Anteil der Rentenzahlungen am BIP im EU-27-Durchschnitt bei 9,5 Prozent liegt, beträgt er in der Türkei 4,1 Prozent. Dies wiederum schlägt sich auch in der Höhe der Renten nieder. Bis 2015 lag die Mindestrente über dem Mindestlohn. Inzwischen beträgt sie jedoch nur noch 59 Prozent des Mindestlohns.
Etwas mehr als die Hälfte der Rentner:innen empfängt eine Mindestrente. In der Praxis setzt sich die Mindestrente aus dem regulären Rentenanspruch und einer Zuzahlung aus dem Staatshaushalt zusammen. Gesetzlich festgelegt ist eine zweimalige Anpassung der Rentenhöhe um die Inflation des jeweiligen Halbjahres. Doch diese Erhöhung wird nicht auf der Grundlage der Rentenhöhe, sondern des regulären Rentenanspruchs berechnet. Im Juli 2023 hatte dies zur Folge, dass mehr als die Hälfte der Rentner:innen keine Erhöhung erhielten, weil der Inflationsausgleich den Rentenanspruch nicht über das Niveau der Mindestrente anhob. Angesichts einer offiziellen Inflation von 31,12 Prozent im ersten Halbjahr 2023 verloren Rentner:innen damit knapp ein Drittel ihrer Kaufkraft.
Die Folgen dieser Entwicklung sind vielfältig. Während viele Rentner:innen versuchen, ihre Rente durch Erwerbstätigkeit zu verbessern, steigt auch der Druck, aus den teuren Metropolen wegzuziehen. Wer beides nicht kann, wird meist abhängig von familiärer Unterstützung und Sozialhilfe.
DAS GRUBENUNGLÜCK VON ILIÇ
Am 13. Februar 2024 ereignete sich in Iliç in der Provinz Erzincan in einem Goldtagebau ein Unfall, bei dem neun Arbeiter getötet wurden. Mit diesem Unfall kam nicht nur die Arbeitssicherheit im Bergbau, sondern auch das Umweltrisiko wieder auf die Tagesordnung. Das Ausmaß der Katastrophe wurde dadurch verschärft, dass in der Anlage Zyanid zur Reinigung des Goldes eingesetzt wird. Bei dem Erdrutsch handelt es sich um kontaminierten Abraum. Der Tagebau ist die zweitgrößte Goldmine der Türkei, in der außerdem Silber und Kupfer gefördert werden. Das Gelände erstreckt sich über eine Fläche von 200 Fußballfeldern und liegt 600 Meter vom Euphrat entfernt. Geplant ist eine Erweiterung auf die Fläche von 640 Fußballfeldern.
Sachverständige gehen davon aus, dass die Abraumhalde zu hoch war und darum instabil wurde. Mit der Katastrophe kommt die Vorgeschichte ans Licht. Das Ministerium für Umwelt und Stadt hatte bei einer Umweltverträglichkeitsprüfung angesichts eines Antrags auf Erweiterung des Abbaugebietes erklärt, dass es kein Risiko für Erdrutsche gäbe. Außerdem war die Anlage 2022 nach einem Bruch in einem Zyanid-Rohr vorübergehend stillgelegt worden. Doch nach drei Monaten konnte der Bergbau fortgesetzt werden.
Doch das eigentliche Problem steht noch bevor. Ist Zyanid für sich genommen bereits hochgiftig, so besteht das Risiko, dass die gelösten Schwermetalle sich im Grundwasser anreichern. Dies gefährdet sowohl die Bevölkerung als auch die Landwirtschaft.
Das Unglück wirft Fragen sowohl im Hinblick auf das Umweltverträglichkeitsverfahren als auch bei der Bergbauüberwachung auf. Sollten die Abraumhalden tatsächlich weit über das zulässige Maß angewachsen sein, hätte dies bei einer Kontrolle zu einer Intervention führen müssen. Und bei einer fachgerechten Umweltverträglichkeitsprüfung hätten die Risiken des Anreicherungsverfahrens berücksichtigt werden müssen.
Bundespräsident Steinmeier besuchte die Türkei anlässlich des 100-jährigen Jubiläums der diplomatischen Beziehungen und führte wichtige Gespräche, u.a. mit Staatspräsident Erdoğan. In den USA gibt es eine wachsende “Türkei-Müdigkeit”, aber auch ein gestiegenes Interesse aufgrund der Rolle der Türkei in der Sicherheitspolitik und als Waffenproduzent. Darüber hinaus verfolgt die Türkei eine Deeskalationsstrategie gegenüber Ägypten, dem Irak und Griechenland.
BESUCH VON BUNDESPRÄSIDENT STEINMEIER IN DER TÜRKEI
Der Türkei-Besuch von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier vom 22. bis 24. April umfasste wohl alle wesentlichen Facetten der deutsch-türkischen Beziehungen. Anlass war das hundertjährige Jubiläum der diplomatischen Beziehungen zwischen beiden Ländern. Steinmeier besuchte den Bahnhof Sirkeci in Istanbul, von dem aus seit den 1960er Jahren viele Menschen ihre Reise nach Deutschland antraten. Er informierte sich über die deutsche Wirtschaft in der Türkei und besuchte eine Schule, die mit deutscher Hilfe gebaut wurde. Aber er führte auch politische Gespräche mit den Oppositionspolitikern Ekrem Imamoğlu, Özgür Özel und Mansur Yavaş. Das Gespräch mit Staatspräsident Erdoğan dauerte zwei Stunden. Bei der anschließenden Pressekonferenz drängte der türkische Staatspräsident auf Fortschritte in der Visafrage und forderte mehr Solidarität im Kampf gegen den Terrorismus. Er kritisierte die Restriktionen bei Rüstungsprojekten und sprach von beispielloser Gewalt Israels in Gaza.
Steinmeier hingegen erinnerte daran, dass es der Angriff der Hamas auf Israel gewesen sei, der den Krieg ausgelöst habe. Er verknüpfte die Aussicht auf eine Intensivierung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit der Bedeutung der Rechtsstaatlichkeit. Die Botschaft lautete, gemeinsame Interessen herauszuarbeiten und gemeinsam daran zu arbeiten.
ENTSPANNUNG IN DEN US-BEZIEHUNGEN
Nach einem USA-Besuch berichtete der türkische Sozialwissenschaftler Fuat Keyman in mehreren Beiträgen in der Tageszeitung Karar. Leitthema war eine Veränderung im Diskussionsklima die er mit „Türkei-Müdigkeit“ umschrieb. Nicht dass die Türkei aus der Sicht amerikanischer oder europäischer Außenpolitikexpert:innen unwichtig geworden wäre. Doch ginge es nicht mehr so sehr darum, die Türkei als Verbündeten zu gewinnen oder zu verlieren. Es sei eher ein sich vertiefendes Misstrauen, gepaart mit einem Genervtsein angesichts der Versuche, einfache diplomatische Fragen in Tauschgeschäfte überführen zu wollen.
Mit der Zustimmung der Türkei zum NATO-Beitritt Schwedens und der Freigabe des Verkaufs von F16-Kampfjets durch die USA sind zwei Probleme gelöst worden, die im vergangenen Jahr die Beziehungen beider Länder belastet hatten. Zudem ist das Interesse der US-Regierung nicht zuletzt aufgrund des Ukraine-Kriegs gestiegen. Die Türkei ist ein großer Rüstungsproduzent und wird in diesem Jahr beispielsweise zu einem der wichtigsten Lieferanten für Artilleriegranaten der USA aufsteigen.
Die Tatsache, dass Präsident Biden seinen türkischen Amtskollegen erstmals für den 9. Mai 2024 zu einem Gespräch ins Weiße Haus einlud, kann wohl als Gradmesser für das gestiegene Interesse gewertet werden. Da jedoch das genaue Besuchsprogramm knapp zwei Wochen vor dem Besuch noch nicht feststand und sich in der Presse Spekulationen über eine Ausladung häuften, und zudem nach der Zustimmung des Kongresses zu einem umfangreichen Hilfspaket für Israel, wollte Erdoğan wohl nicht in die Nähe von Israel-Unterstützern gerückt werden und verschob den Besuch auf einen späteren Zeitpunkt.
Auf türkischer Seite wiederum sind seit Sommer 2018 Sicherheitspolitik und die Hoffnung auf westliche Investitionen zu zentralen Elementen der Außenpolitik geworden. Während die türkische Regierung auf der einen Seite versucht, die Voraussetzungen für einen Schlag gegen die PKK in Syrien und im Irak herbeizuführen, verfolgt sie bei früheren Konfliktländern eine Deeskalationsstrategie. Diese zielt nicht zuletzt darauf, aus den USA und West-Europa Gelder anwerben zu können oder zumindest ein Veto zu vermeiden.
KOOPERATION MIT DEM IRAK
Am 14. März 2024 besuchten Außenminister Fidan, der Leiter des Geheimdienstes MIT Kalın sowie Generalstabschef Güler den Irak. Neben sicherheitspolitischer Kooperation und militärischer Zusammenarbeit wurde über die türkische Forderung beraten, die Aktivitäten der PKK im Irak zu beenden. Weitere Themen waren die Zusammenarbeit bei Energie sowie das von der Türkei favorisierte Projekt einer Handelsroute vom Golf von Basra in die Türkei als Alternative zum beim G20-Gipfel bekannt gegebenen Handelskorridor von Saudi-Arabien nach Israel.
In der gemeinsamen Erklärung nach den Gesprächen erklärte der Irak erstmals die PKK als ungesetzliche Organisation, die kein Recht habe, auf dem Gebiet des Landes aktiv zu sein und die nationale Sicherheit bedrohe. Am 22. April besuchte zudem Staatspräsident Erdoğan den Irak. Es war der erste Besuch seit zwölf Jahren.
ENTSPANNUNGSPOLITIK MIT ÄGYPTEN UND GRIECHENLAND
Januar 2024 wiederum setzte einen Schlusspunkt unter die bisherige Ägypten-Politik seiner Regierungen. Nach 13 Jahren, in denen er nach dem Staatsstreich des damaligen Generals Abdelfattah As-Sisi die unterlegene Muslimbruderschaft unterstützt hatte, war diese zunächst zurückgenommen worden, um im Juli 2023 den Weg zur Wiederaufnahme der bilateralen Beziehungen auf Botschafterebene frei zu machen. Ein realpolitischer Ansatz in den Beziehungen zu Ägypten erwies sich für die türkische Regierung in mehrfacher Hinsicht als geboten. Zum einen gilt das Land nach wie vor als wichtiges Mitglied der Arabischen Liga und der Union Afrikanischer Staaten. Zudem hatten die belasteten Beziehungen zu einer Annäherung Ägyptens, Israels, der Republik Zypern und Griechenlands geführt, die die Spannungen im östlichen Mittelmeer vertiefte und die Türkei wiederholt in die Rolle eines Aggressors drängte. Die Rivalität heizte zudem den libyschen Bürgerkrieg an, bei dem beide Länder unterschiedliche Seiten unterstützten.
Zum anderen gehörte die Abkehr von der Unterstützung der Muslimbruderschaft zu den Voraussetzungen für die Verbesserung der Beziehungen zu Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten. Hier bemüht sich Finanzminister Şimşek seit seinem Amtsantritt intensiv um Devisen und erreichte Milliarden-Einlagen für die Türkische Zentralbank.
Im Verhältnis zu Griechenland hat sich an den grundlegenden Konflikten wenig geändert. Nach wie vor rivalisieren sie beim Grenzverlauf in der Ägäis und der Lösung des Zypern-Konflikts. Aber das Klima hat sich verändert. Meldungen über Luftwaffenkonfrontationen in der Ägäis werden seltener, auch von Gassondierungen in umstrittenen Seegebieten ist seit einigen Monaten nicht mehr die Rede.
Die Intensivierung des Vorgehens gegen irreguläre Migration wiederum hat nicht nur im Verhältnis zu Griechenland Entspannung gebracht. Auch wenn beim EU-Frühjahrsgipfel der Einstieg in die vom Hohen Vertreter für Außen- und Sicherheitspolitik der EU Josep Borrell entworfenen neuen Türkei Politik nicht auf die Tagesordnung kam, setzte sich u.a. Deutschland für eine „positive Botschaft“ gegenüber der Türkei ein. Die von Borrell vorgeschlagene neue Türkei-Politik zielt auf klare Fortschritte in den Beziehungen zwischen der EU und der Türkei jenseits der Beitrittsverhandlungen. Diese Fortschritte - sei es bei der Visaerteilung oder bei der Modernisierung der Zollunion - sollen jedoch nicht unumkehrbar sein, sondern müssen an dauerhafte Lösungen für bilaterale Probleme geknüpft werden.
— Eine Auswahl der Einschätzung der Kommunalwahl von Henrik Meyer und Antonia Tilly:
— Am 22. Februar wurde in einer gemeinsamen Veranstaltung der FES Türkei und des Deutschen Generalkonsulats Istanbul die türkische Übersetzung des Buches “Sprachgewalt” von David Ranan mit einer Lesung und anschließender Diskussion vorgestellt.
— Der türkische Ökonom Mustafa Sönmez hat für die FES Türkei das FES Briefing „Türkei - Ausgewählte sozioökonomische Indikatoren 2024-1“ verfasst. https://library.fes.de/pdf-files/bueros/tuerkei/21134.pdf
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