Die Türkei nach den Wahlen
Parlamentswahl
Bei den türkischen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen am 14. Mai 2023 konnte das Regierungsbündnis seine absolute Parlamentsmehrheit mit geringen Einbußen behaupten. Staatspräsident Erdoğan wurde im zweiten Wahlgang am 28. Mai 2023 wiedergewählt. Die Ergebnisse der Wahlen waren überraschend, denn viele Meinungsumfragen hatten die Opposition deutlich in Führung gesehen. Auch die im 6er-Bündnis zusammengeschlossenen Oppositionsparteien hatten erwartet, dass die verschlechterten Lebensbedingungen vieler Menschen aufgrund der Inflation zu einer Niederlage des Regierungsbündnisses führen müssten. Umso herber ist nun bei den Oppositionsparteien und ihren Wähler_innen die Enttäuschung. Eine Analyse der Wahlkampagne und -ergebnisse gibt einen Ausblick auf die für März 2024 bevorstehenden Kommunalwahlen.
Das Wahlergebnis - Das neue Parlament
Die Parlamentswahlen brachten sehr vergleichbare Ergebnisse zu den letzten Wahlen in 2018 hervor. Trotz leichter Verschiebungen bleiben die Kräfteverhältnisse im Parlament erstaunlich konstant. Das Regierungsbündnis aus der islamisch-konservativen AKP, der rechts-nationalistischen MHP und der islamischen Wohlfahrtspartei YRP verlor zwar insgesamt 21 Mandate, verfügt jedoch weiterhin über eine absolute Mehrheit im Parlament. Das 6er-Bündnis der Opposition gewann 23 Mandate hinzu. Die größte Oppositionspartei CHP verlor dabei jedoch eigene Mandate, da sie kleineren Bündnisparteien insgesamt 30 Plätze auf ihrer Liste eingeräumt hatte. Die links-grüne YSP, auf deren Liste die links-kurdische HDP kandidiert hatte, verlor sechs Mandate, dafür gewann die zweite Partei im gemeinsamen Linksbündnis, die Türkische Arbeiterpartei (TİP), vier Mandate.
Betrachtet man die regionale Verteilung der Stimmen, so zeigt sich ebenfalls eine erstaunliche Beständigkeit des Wahlverhaltens. In Istanbul und Ankara lag die Opposition, die bei der Kommunalwahl 2019 die Oberbürgermeisterposten gewann, weiter vorn, während in Zentralanatolien und der Schwarzmeer-Region die Parteien des Regierungsbündnisses erfolgreich blieben. Obgleich die AKP teils hohe Verluste hinnehmen musste, kam dies nicht den Oppositionsparteien zu Gute. Das Meinungsforschungsinstitut Konda kommt in einem Bericht vom Juni 2023 zu dem Schluss, dass die Ursache dafür in der hohen politischen Polarisierung liege. Frühere Wähler_innen der AKP haben demzufolge eher für andere Parteien aus dem Regierungsbündnis gestimmt (wie die rechts-nationalistische MHP oder die islamische Wohlfahrtspartei YRP) oder gingen gar nicht wählen, als in das Oppositionslager zu wechseln. Die Verluste des Linksbündnisses seien vermutlich unter anderem auf die Senkung der Sperrklausel auf 7 Prozent zurückzuführen. Stimmen, die 2018 an die HDP gingen, um ihr den Einzug ins Parlament trotz der damals geltenden 10 Prozent-Hürde zu ermöglichen, seien dieses Mal zum Teil an die CHP und zum Teil an die TİP gegangen.
Präsidentschaftswahl
Bei der Präsidentschaftswahl verfehlte Amtsinhaber Recep Tayyip Erdoğan im ersten Wahlgang mit 49,52 Prozent der Stimmen die absolute Mehrheit und musste sich erstmals einer Stichwahl stellen. Auf Kemal Kılıçdaroğlu, der als Präsidentschaftskandidat vom 6er-Bündnis und dem Linksbündnis unterstützt wurde, entfielen 44,88 Prozent der Stimmen. Auf den vom Rechtsbündnis ATA unterstützten Sinan Oğan 5,17 Prozent und auf Muharrem İnce, der seine Kandidatur unmittelbar vor der Abstimmung zurückgezogen hatte, 0,43 Prozent.
Recep Tayyip Erdoğan und Kemal Kılıçdaroğlu zogen somit in die Stichwahl ein. Vor der zweiten Runde buhlten beide Kandidaten um die Stimmen aus dem Rechtsbündnis ATA. Dieses spaltete sich schließlich: Sinan Oğan, der Kandidat des Bündnisses, sprach sich für die Wahl Erdoğans in der zweiten Runde aus. Die stärkste Partei des Bündnisses, die nationalistische Siegespartei (Zafer Partisi), unterstützte in der zweiten Runde hingegen Kemal Kılıçdaroğlu.
Insgesamt ging die Wahlbeteiligung in der Stichwahl von 87,05 Prozent in der ersten Runde - die höchste Wahlbeteiligung seit 1991 - auf 84,2 Prozent in der zweiten Runde zurück. Neben der geringeren Wahlbeteiligung in den HDP-Hochburgen, die unter anderem durch die Verhandlungen von Kemal Kılıçdaroğlu mit der nationalistischen Siegespartei bedingt sein könnte, war auch ein Rückgang in Gebieten mit AKP-Hochburgen, z.B. in Zentral- und Nordostanatolien sowie der Schwarzmeerregion, sichtbar.
Gesellschaftliche Polarisierung
Die Polarisierung ist in der türkischen Politik der vergangenen 20 Jahre im Grunde nichts Neues. Ein Kern der CHP-Wahlstrategie bestand darin, diese zu überwinden und auf Botschaften zu setzen, die Vertrauen bei Unterstützer_innen des Regierungslagers schaffen und wechselwillige Wählerinnen und Wähler gewinnen sollten. Auch das breite 6er-Bündnis der Opposition, das Parteien aus dem religiös-konservativen bis nationalistischen Spektrum einschloss, gründete auf diesem Gedanken. Der Erfolg dieser Strategie blieb jedoch aus – aus mehreren Gründen.
Zum einen ist der Aufbau von Vertrauen und Glaubwürdigkeit ein zeitintensiver Prozess. Die CHP begann ihren Wahlkampf erst im März und hatte gerade einmal zweieinhalb Monate für ihre Kampagne. Diese fand zudem unter sehr unfairen Rahmenbedingungen statt, in denen die traditionellen Medien wie Zeitungen und Fernsehen weitgehend von regierungsnahen Holdings kontrolliert werden. Dies macht es schwierig, Menschen zu erreichen und eigene Botschaften zu platzieren.
Ein weiteres Problem für die CHP ist zudem ihre Kurden-Politik. Die CHP hat wenig unternommen, als das Regierungsbündnis systematisch die links-kurdische HDP kriminalisierte. Ein in den vergangenen Jahren mehrfach angekündigter Entwurf für eine politische Lösung der Kurdenfrage ist noch immer nicht veröffentlicht worden. Die AKP nutzte dies für eine Diffamierungskampagne. So ließ Recep Tayyip Erdoğan bei einer Wahlkundgebung eine Videomontage abspielen, die ein Treffen von Kemal Kılıçdaroğlu mit der PKK-Führung zeigen sollte. Mehrfach wurde gefälschtes Wahlmaterial mit CHP-Logo verteilt.
Ein weiterer Grund für den ausbleibenden Erfolg der Strategie des 6er-Bünsnisses war, dass die spürbar geschwundene Kaufkraft die Wählerinnen und Wähler offensichtlich nicht im erwarteten Maße aufgerüttelt und zur Abwahl des Regierungsbündnisses bewegt hat. Dies hat mehrere Gründe: Zum einen hat die Regierung großzügige Wahlgeschenke verteilt. Der Mindestlohn ist zu Jahresbeginn stark erhöht worden, ein Gesetz über den vorzeitigen Ruhestand wurde erlassen, Gehälter im Staatsdienst erhöht. Zum anderen wurde durch den Verzicht auf eine Erdgasrechnung im Mai – zumindest auf dem Papier – die Inflation kurzzeitig unter 50 Prozent gesenkt.
Das Abstimmungsergebnis in den Erdbebenprovinzen zeigt, dass auch die ursprüngliche Verärgerung über Pannen bei den Hilfsmaßnahmen nach den Erdbeben sowie über die Versäumnisse bei Bauplanung und –kontrolle nicht nachwirkten, oder zumindest nicht der Opposition zu Gute kam. Die Regierungspartei AKP und Präsident Erdoğan haben zwar in einigen Regionen an Zustimmung verloren, die betroffenen Regionen jedoch fast ausschließlich wieder für sich gewinnen können.
Bekir Ağırdır vom Meinungsforschungsinstitut Konda unterstreicht, dass es der Opposition letztlich nicht gelungen sei, einen signifikanten Teil der 25 Millionen Wählerinnen und Wähler des Regierungsbündnisses von sich zu überzeugen. Als eine der Ursachen nennt er die Strategie des Regierungsbündnisses, zwei zentrale Aspekte gesellschaftlichen Wandels zu kontrollieren. Im Hinblick auf die gesellschaftliche Stellung von Frauen kontrolliere das Bündnis Wandel mit dem Verweis auf „öffentlicher Moral“. Auf Forderungen, die kurdische Identität anzuerkennen, antworte es mit dem Verweis auf die Sicherheit des Staates. Laut Ağırdır gebe diese Politik des Stillstands der Wählerbasis von AKP und Präsident Erdoğan Sicherheit.
Auf der anderen Seite stellt sich die Frage, warum die Bündnisstrategie der CHP bei den Kommunalwahlen 2019 zum Sieg in Istanbul und Ankara führte, dieses Mal jedoch keine größere Veränderung erzielte. Es gehört zu den Details der Wahlergebnisse, dass die Opposition in Großstädten generell erfolgreicher war. Dies wird zum einen auf den höheren sozioökonomischen Entwicklungsstandard und zum anderen auch darauf zurückgeführt, dass die Kaufkraftverluste vor allem die städtische Mittelschicht getroffen haben.
Trotz der veränderten Wahlbeteiligung und des Stimmenfangs aus dem Rechtsbündnis hat sich das Kräfteverhältnis in der Stichwahl letztendlich kaum verschoben. Der Abstand zwischen den beiden Kandidaten verringerte sich im Vergleich zur ersten Runde lediglich um rund 200.000 Stimmen. Der Sieg von Amtsinhaber Erdoğan in der zweiten Wahlrunde fiel mit 52 zu 48 Prozent jedoch knapper aus, als viele Beobachterinnen und Beobachter erwartet hatten.
Der von der Opposition erhoffte Machtwechsel ist allerdings ausgeblieben. Dennoch ist ein solcher Wandel das erste Mal seit vielen Jahren in greifbare Nähe gerückt – und dies trotz höchst unfairer und ungleicher Ausgangsbedingungen. Einer der Gründe, warum der Wechsel letztendlich gescheitert ist, könnte die hohe Polarisierung der türkischen Gesellschaft sein, die auch bei den Wahlen 2023 wirksam wurde.
Innenpolitik
Niedergeschlagene CHP
Die Wahlniederlagen haben große Enttäuschung an der Basis der Oppositionsparteien ausgelöst und vor allem in der CHP zu kontroversen Diskussionen geführt. Ein Diskussionsstrang bezieht sich auf die Frage des Vorsitzes. Der Vorsitzende und unterlegene Präsidentschaftskandidat Kemal Kılıçdaroğlu hat deutlich gemacht, dass er es als seine Verantwortung betrachtet, die Partei zumindest noch bis zu den Kommunalwahlen im März 2024 zu führen. Als mögliche Alternativen für den Vorsitz werden innerhalb der Partei Istanbuls Oberbürgermeister Ekrem İmamoğlu und der Fraktionsvorsitzende Özgür Özel gehandelt. Kemal Kılıçdaroğlu spricht sich gegen Ekrem İmamoğlu als Nachfolger aus, weil dieser aus seiner Sicht zunächst die Wahlen in Istanbul bei den Kommunalwahlen 2024 gewinnen soll. Ein zweiter Diskussionsstrang bezieht sich auf Satzungsänderungen, die mehr innerparteiliche Demokratie herstellen sollen. Hier wird insbesondere auf größere Verbindlichkeit von Vorabstimmungen bei der Nominierung von Kandidatinnen und Kandidaten gesetzt.
Ein dritter Diskussionsstrang ist die Frage, ob die Bündnispolitik mit islamisch-konservativen und rechten Parteien im 6er-Bündnis nicht ein grundsätzlicher Fehler gewesen sei. Kritische Stimmen werfen dem Parteivorsitzenden vor, mit der Abgabe von Parlamentsmandaten an die kleineren Bündnisparteien zu großzügig gewesen zu sein, obwohl diese dem Bündnis keinen wesentlichen Stimmenvorteil gebracht hätten. Auch hat ein Kandidat der DEVA-Partei, Sadullah Ergin, der in der CHP-Liste in Ankara aufgestellt wurde, hatte für Irritationen an der Basis geführt. Ergin ist während des Ergenekon-Prozesses Justizminister in einer AKP-Regierung gewesen. Im Ergenekon-Verfahren wurden zahlreiche Intellektuelle, Politiker_innen und Journalist_innen mit gefälschten Beweisen, die eine Nähe zur Gülen-Gemeinschaft belegen sollten, angeklagt und über mehrere Jahre inhaftiert.
Als Reaktion auf die Diskussionen hat der Parteivorstand mit den Vorbereitungen für einen Parteitag begonnen. Im ersten Schritt finden hierfür Delegiertenwahlen in den Ortsgruppen statt, gefolgt von Parteitagen auf Kreis- und Provinzebene. Diese sollen bis Oktober abgeschlossen werden. Der nationale Parteitag wird dann vermutlich im November stattfinden. Vor allem mit Blick auf die Frage des Parteivorsitzes wird dieser mit Spannung erwartet.
Die Diskussion über den Parteivorsitz lähmt die inhaltlichen Diskussionen über die Wahlniederlage und die nötigen Schlussfolgerungen ebenso wie sie das Erscheinungsbild der Partei schwächt. Dass die Diskussion mit Härte und auch Tricks geführt wird, verstärkt den Schaden weiter. So wurde ein Ausschnitt aus einer Videokonferenz mit Ekrem İmamoğlu publik gemacht, in der dieser mit hochrangigen CHP-Parteivetreter_innen die Möglichkeiten eines außerordentlichen Parteitages auslotet, um die Wahl eines neuen Vorsitzenden zu beschleunigen.
Parallel zur Reform- und Vorsitzdiskussion bemüht sich die CHP um die Vorbereitung der Kommunalwahl 2024. Dazu wurde am 22. Juli 2023 eine Konferenz der CHP-Bürgermeister_innen durchgeführt, bei der Kemal Kılıçdaroğlu erklärte, die Kampagne müsse zunächst unter der Voraussetzung vorbereitet werden, dass es nicht zu einer Wiederbelebung des Parteienbündnisses mit der zweitstärksten Oppositionspartei, der İyi-Partei, komme. Zuvor war berichtet worden, dass die CHP in einigen Städten an der Mittelmeerküste zugunsten der İyi-Partei auf die Nominierung von Oberbürgermeisterkandidaten_innen verzichten könnte. Dies wurde jedoch später dementiert.
İyi-Partei: Meral Akşener übernimmt die Kontrolle
Auch in der İyi-Partei hatte das Wahlergebnis Kontroversen ausgelöst. Dabei wurde unter anderem kritisiert, dass nur wenig Raum für innerparteiliche Demokratie bliebe und die Basis nicht einbezogen werde. Beim Parteitag am 24. Juni 2023 hielt die Vorsitzende Meral Akşener eine emotionale Rede, in der sie erklärte, es sei ihr größter politischer Fehler gewesen, sich die Hilfe der CHP bei der Parlamentswahl 2018 geholt zu haben. Bei dieser Wahl waren 20 CHP-Abgeordnete vorübergehend in die İyi-Partei eingetreten und ermöglichten ihr so die Teilnahme an der Wahl. Meral Akşener glaubt nun, dass die entstandene Abhängigkeit der Entwicklung der Partei geschadet habe. Auch mit ihren innerparteilichen Kritiker_innen ging sie hart ins Gericht und kündigte an, zukünftig stärker selbst zu entscheiden. Sie wurde mit 1.127 der 1.151 Delegiertenstimmen wiedergewählt.
Obgleich Meral Akşener der Fortsetzung des Wahlbündnisses in ihrer Parteitagsrede scheinbar eine Absage erteilte, ist ihr gleichwohl bewusst, dass ohne eine Zusammenarbeit bei der Kommunalwahl kaum Aussicht auf Erfolg besteht. Die Verhandlungen mit der CHP werden fortgesetzt.
Ungewissheit bei der HDP
Nach dem auch für die HDP enttäuschenden Wahlausgang traten die HDP-Ko-Vorsitzenden Pervin Buldan und Mithat Sancar zurück. Zugleich begann eine Strategiediskussion, ob die HDP in der YSP aufgehen solle. Aufgrund des laufenden Verbotsverfahrens hatte die links-kurdische HDP auf der Liste der links-grünen YSP kandidiert. Nun wird diskutiert, den Namen der YSP zu ändern und Kernelemente der HDP in deren Satzung zu übernehmen. Ein dafür erforderlicher Parteikongress ist für September vorgesehen.
Die HDP und YSP hatten Kemal Kılıçdaroğlu bei der Präsidentschaftswahl unterstützt, im Nachhinein bewertet der Vorstand der HDP den Verzicht auf einen eigenen Präsidentschaftskandidaten nun jedoch als Fehler. Auch habe man sich zu sehr auf die repräsentative Demokratie verlassen, eigene Politikentwürfe jedoch nicht ausreichend auf die Tagesordnung gebracht. Damit habe sich die HDP zu weit von ihrer direkten Politik als Basispartei entfernt. Die HDP steht damit vor einer Grundsatzdiskussion ihrer Ausrichtung als Partei.
Ein Antrag der Staatsanwaltschaft am Kassationsgerichtshof der HDP den für die Wahlen vorgesehenen Zuschlag zur staatlichen Parteienförderung zu entziehen, weil diese nicht an den Wahlen teilgenommen habe, wurde vom Verfassungsgericht zurückgewiesen. Das Verbotsverfahren gegen die HDP wird jedoch fortgeführt.
Eine neue Regierung
Bereits vor den Wahlen hatte Staatspräsident Erdoğan die Weichen für eine umfassende Umbildung der Regierung gestellt: Fast das gesamte bisherige Kabinett kandidierte für das Parlament und räumte damit einen Großteil der Regierungsposten. Die beiden einzigen Minister, die ihr Ressort behielten, waren der Gesundheitsminister und der Minister für Tourismus und Kultur. Die höchsten Erwartungen waren nach der Wahl an die Neubesetzung des Finanzministeriums und des Innenministeriums gerichtet.
Als neuer Finanzminister wurde Mehmet Şimşek berufen. Bereits bei seiner Amtseinführung erklärte dieser, dass es keine Alternative zur Rückkehr zu einer orthodoxen Wirtschaftspolitik geben könne. Er kündigte Vorhersehbarkeit und Transparenz an. Sein erster Schwerpunkt lag jedoch nicht bei der Inflation, sondern auf der Beschaffung von Devisen (mehr dazu im Kapitel Wirtschaft und Soziales). Neben dem Posten des Finanzministers wurde auch die Präsidentschaft der Zentralbank mit Hafize Gaye Erkan, die als Bankmanagerin in den USA ausgebildet wurde und gearbeitet hat, neu besetzt.
Neuer Innenminister wurde der ehemalige Gouverneur von Istanbul, Ali Yerlikaya. Sein Vorgänger Süleyman Soylu wurde zum Vorsitzenden des Innenausschusses im Parlament gewählt und hat damit nach wie vor Einfluss auf die Innenpolitik. Yerlikaya setzte zunächst einen Schwerpunkt auf das Vorgehen gegen irreguläre Migration, auch an der Praxis der Demonstrationsverbote hat sich nach seinem Amtsantritt nichts geändert. Anders als sein Vorgänger bemüht sich Yerlikaya weniger darum, durch öffentliche Auftritte politisches Profil zu gewinnen.
Neuer Außenminister wurde Hakan Fidan, der zuvor Geheimdienstchef war. Als Nachfolger auf seiner Stelle beim Geheimdienst MIT wurde İbrahim Kalın ernannt, ehemaliger Sprecher des Präsidialamts, der häufig von Staatspräsident Erdoğan als Sonderbevollmächtigter eingesetzt wurde.
Der vorherige Generalstabschef Yaşar Güler wurde zum neuen Verteidigungsminister ernannt. Auch sein Vorgänger hatte zuvor diese Position inne. Nach dem gescheiterten Putschversuch vom 15. Juli 2016 sind zahlreiche Kompetenzen des Generalstabs auf das Verteidigungsministerium übergegangen, seit 2018 wird dieses durch Minister geführt, die selbst aus der Militärführung stammen.
Der neue Landwirtschaftsminister İbrahim Yumaklı wird vermutlich zu den Ministern zählen, die in der nächsten Zeit von sich reden machen. Ein neues Landwirtschaftsgesetz sieht vor, dass künftig der Anbau von Lebensmitteln von einer Genehmigung des Landwirtschaftsministeriums abhängig sein soll. Ziel ist es, durch bessere Planung die Effizienz der Landwirtschaft zu verbessern und das Einkommen der Landwirte zu erhöhen.
Die einzige Frau im neuen Kabinett ist Mahinur Özdemir Göktaş, Ministerin für Familie und soziale Dienste. Sie ist in Belgien geboren und war bis 2019 Vizevorsitzende der Kommission zur Gleichstellung von Mann und Frau im belgischen Parlament.
Insgesamt kann das neue Kabinett als überwiegend technokratisch bewertet werden. Bekannte und politisch profilierte Figuren wie Mevlüt Çavuşoğlu, immerhin fast zehn Jahren Außenminister der Türkei, oder Süleyman Soylu, der auch in der MHP viel Unterstützung genoss, sind nicht mehr Teil der Regierung. Dies könnte auch auf eine Machtverschiebung zwischen den Parteien des Regierungslagers hindeuten. In den kommenden Monaten wird besonders aufmerksam beobachtet werden, inwiefern die Neubesetzung des Finanzministeriums mit einem Kurswechsel in der Wirtschaftspolitik einhergeht.
Lage der syrischen Flüchtlinge nach den Wahlen
In den vergangenen zwei Jahren ist die Akzeptanz syrischer Flüchtlinge in der Türkei stark zurückgegangen. Auf das Wahlkampfversprechen von Kemal Kılıçdaroğlu, syrische Flüchtlinge durch eine Übereinkunft mit dem Regime in Syrien binnen zwei Jahren zurückzuschicken, reagierte die Regierung mit einem Plan, in dem durch Wohnungsbauprojekte und Hilfen eine freiwillige Rückkehr in die von der Türkei besetzten syrischen Gebiete erfolgen soll.
Zwar ist die Zahl der syrischen Flüchtlinge seit 2021 um mehr als 400.000 Menschen gesunken, doch noch immer befinden sich rund 3,3 Millionen in der Türkei. Eine mittelfristige Rückkehr ist unwahrscheinlich. Hinzu kommt eine große Zahl irregulärer Migrant_innen, von denen die größte Gruppe aus Afghanistan kommt. Seit Jahresbeginn wurden mehr als 27.000 irregulärer Migrant_innen aufgegriffen, Tausende wurden abgeschoben.
Die steigende Ablehnung gegen Migrant_innen und Geflüchtete entlädt sich immer wieder auch in offener Gewalt. Am 3. Juli 2023 versammelte sich eine mit Knüppeln bewaffnete Menge in Dilova in der Provinz Kocaeli und forderte, alle Syrer_innen sollten den Ort unverzüglich verlassen. Vorausgegangen war das Gerücht, eine Gruppe Syrer habe ein türkisches Haus überfallen. Dies wurde dementiert und nach einem Polizeieinsatz beruhigte sich die Lage wieder. Der zuständige Landrat gab anschließend jedoch bekannt, dass die in den Vorfall verwickelten Ausländer abgeschoben würden. Zwei Jahre zuvor hatte es über mehrere Tage hinweg ähnliche Vorfälle in Ankara gegeben.
Für die Regierung erweist sich die sinkende Akzeptanz für Geflüchtete aus Syrien und Afghanistan zunehmend als Problem. Ihr Lösungsansatz ist, Grenzkontrollen und Straßenkontrollen zu verstärken, sowie zunehmend polizeiliche Operationen gegen Menschenschmuggel zu führen. Die Situation der Syrer_innen in der Türkei und die Diskussion um ihre Bleibeperspektive und Integration adressiert sie damit aber nicht. Zwar gibt es zahlreiche Organisationen und Initiativen, die Flüchtlinge und Migrant_innen unterstützen. Sie haben jedoch nur einen sehr geringen Zugang zur Öffentlichkeit. Einwanderungspolitik und Integration werden kaum differenziert diskutiert.
Medien und Menschenrechte
Neu gewählter Abgeordneter weiter in Haft
Für die Türkische Arbeiterpartei (TİP) wurde Can Atalay als Abgeordneter der Provinz Hatay ins Parlament gewählt. Atalay wurde im Zuge der Gezi-Park-Proteste 2013 erstinstanzlich wegen versuchtem Staatsstreich verurteilt und sitzt in Haft. Als gewählter Abgeordneter müsste er eigentlich aus der Haft entlassen werden. In zwei früheren Fällen hatte das türkische Verfassungsgericht entschieden, dass nach der Wahl zum Abgeordneten ein laufendes Gerichtsverfahren unterbrochen und eine Untersuchungshaft beendet werden muss.
Zurzeit befindet sich das Verfahren beim Kassationsgerichtshof. Die zuständige Kammer wies den Antrag auf Freilassung Atalays mit Hinweis auf Artikel 14 der Verfassung zurück. Dieser legt fest, dass Grundrechte nicht gegen die Einheit des Staates eingesetzt werden dürfen. Auch auf den Artikel 14 war zuvor das Verfassungsgericht eingegangen und hatte beanstandet, dass der Grundsatz der Vorhersehbarkeit einer Strafe aufgrund der vagen Formulierung des Verfassungsartikels verletzt würde. Die Richter am Kassationsgerichtshof sind im Falle Atalay weder auf das Urteil des Verfassungsgerichts eingegangen - noch auf ein weiteres Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte im selben Prozess.
Hauptangeklagter im Gezi-Park-Prozess ist nämlich Osman Kavala, der eine lebenslängliche Haftstrafe erhielt. Das Verfahren hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bereits als politisch motiviert verurteilt und eine sofortige Freilassung von Kavala gefordert. Die türkische Regierung weigert sich jedoch, das Urteil anzuerkennen, weswegen der Europarat bereits Sanktionen anbahnt.
Anklage gegen Fernsehsender
Unmittelbar nach einer Diskussionssendung wurde der Leiter des Fernsehsenders Tele 1, Mercan Yanardağ, festgenommen. Gegen ihn wird wegen Terrorpropaganda Anklage erhoben – Grund ist eine Äußerung im Laufe der Sendung, bei der er die Haftbedingungen des PKK-Anführers Abdullah Öcalan kritisiert hat. Abdullah Öcalan sitzt in einem gesonderten Gefängnis auf der Insel İmralı im Marmarameer. Seit mehreren Jahren unterliegt er einem Besuchsverbot, das auch seine Anwälte einschließt.
Gegen den Sender wurde wegen dieser Diskussionssendung von der Aufsicht für Radio und Fernsehen (RTÜK) ein einwöchiges Sendeverbot verhängt. Das Verbot ist jedoch mit einer gerichtlichen einstweiligen Verfügung zunächst ausgesetzt. Tele 1 gehört zu den wenigen Medien, die der Opposition Raum geben. Das Vorgehen gegen den Leiter des Senders wurde darum von der Opposition als Versuch kritisiert, die Meinungsfreiheit weiter einzuschränken. Der Prozess gegen Yanardağ soll im Oktober beginnen.
Protest der Samstagsmütter weiter verhindert
Mehr als 700 Mal haben sich die sogenannten Samstagsmütter im Herzen Istanbuls versammelt. Die Bewegung macht mit Protesten und Versammlungen am Samstag auf getötete oder im Polizeigewahrsam verschwundene Angehörige aufmerksam und fordert die Bestrafung der Verantwortlichen. Doch die Kundgebungen werden seit 2018 von der Polizei verhindert, die Teilnehmenden festgenommen. Am 23. Februar 2023 entschied das Verfassungsgericht, dass dieses Vorgehen einen Verstoß gegen die Versammlungsfreiheit darstelle. Gleichwohl werden die Treffen weiter verhindert und die Teilnehmenden festgenommen. Daraufhin entschied im Mai das Verfassungsgericht zum zweiten Mal und verurteilte diese Praxis. Geändert hat es nichts - die Festnahmen halten an.
Wirtschaft und Soziales
Rückkehr zu einer rationalen Geldpolitik?
Der neue Finanzminister Mehmet Şimşek steht vor einem ganzen Bündel von Problemen. Nachdem die offizielle Jahresinflation bis Juni langsam abgesunken ist, steigt sie in der zweiten Jahreshälfte erneut an. Die Türkische Lira hat seit den Wahlen gegenüber Euro und Dollar stark an Wert verloren. Kostspielige Wahlversprechen und die Erdbeben vom 6. Februar haben bedeutende Löcher in den Haushalt gerissen, so dass eines der ersten Gesetze des neuen Parlaments ein Sammelgesetz mit Steuererhöhungen war und ein Nachtragshaushalt beschlossen wurde. Der türkische Export stockt, das Leistungsbilanzdefizit steigt schnell an. In Ermangelung von internationalen Direkt- oder Finanzmarktinvestitionen wurde das Defizit durch die türkische Zentralbank ausgeglichen, deren Devisenreserven damit allerdings auf den niedrigsten Stand seit der Finanzkrise von 2001 gesunken sind.
Ein Programm, das Aufschluss darüber gäbe, welchem dieser Probleme der neue Finanzminister Priorität geben will, steht aus. Für September ist ein neues mittelfristiges Wirtschaftsprogramm angekündigt. Bis dahin kann man nur aus den Aktivitäten von Mehmet Şimşek auf die Absichten der Regierung schließen. Dass allen gegenteiligen Beteuerungen zum Trotz der Schwerpunkt derzeit nicht bei der Inflation liegt, lässt sich aus den Steuererhöhungen ablesen. Die Anhebung der Mehrwertsteuersätze um zwei Prozentpunkte von 18 auf 20 Prozent hat den Preisanstieg noch einmal angefeuert.
Der steigenden Inflation wurde auch mit der Anpassung des Mindestlohnes zum 1. Juli 2023 Rechnung getragen. Dieser wurde um 34 Prozent auf 11.402 TL netto (derzeit rund 380 EUR) erhöht. Die Steigerung liegt deutlich über der offiziellen Inflation von 19,77 Prozent im ersten Halbjahr. Die vom Türkischen Statistikinstitut veröffentlichten Zahlen zu Inflation sind jedoch umstritten - die unabhängige akademische Arbeitsgruppe ENAG kommt auf eine Inflationsrate von 50,53 Prozent seit Jahresbeginn.
Die Situation für die Privathaushalte bleibt damit angespannt. Dabei trifft die Inflation niedrigere Einkommensgruppen noch stärker als höhere. Dies liegt zum einen daran, dass sie einen höheren Anteil des Einkommens für Grundbedürfnisse wie Ernährung und Wohnen aufwenden müssen. Gerade in diesen beiden Bereichen haben sich jedoch die höchsten Preisanstiege vollzogen. Vor allem in den Großstädten, allen voran in Istanbul, sind die Mieten stark angestiegen. Das Forschungsinstitut BETAM der Bahçeşehir Universität hat ermittelt, dass die Untergrenze bei Neuvermietungen für eine 120 Quadratmeter Wohnung in Istanbul bei 17.000 TL beginnt und damit deutlich über dem Mindestlohn liegt. Das Institut KAMUAR der Vereinigung von Gewerkschaften im Öffentlichen Dienst gibt an, dass ein Warenkorb mit den 64 wichtigsten Lebensmitteln im Juni um 80,5 Prozent im Jahreszeitraum anstieg, im Juli dann sogar um 92,2 Prozent.
Angesichts der hohen Inflation wird die Zinspolitik der türkischen Zentralbank aufmerksam verfolgt. Im Juni erhöhte sie den Leitzins von 8,5 Prozent auf 15 Prozent, im Juli erfolgte nochmals eine Erhöhung auf 17,5 Prozent. Setzt man diesen Zinssatz, der für Geldaufnahmen der Banken bei der Zentralbank dient, in Relation zur Inflation, liegt er weiterhin stark im negativen Bereich und ist auch von den durchschnittlichen Kreditzinsen weit entfernt. Erwartet wurden daher stärkere Zinserhöhungen, um dem Ziel der Inflationsbekämpfung Nachdruck zu verleihen. Gleichwohl stimmen viele Ökonom_innen darin überein, dass allein durch Zinsen die Inflation nicht gesenkt werden kann.
Gleichzeitig beginnt bereits die Diskussion, wie lange Mehmet Şimşek als Finanzminister im Amt bleiben wird. Staatspräsident Erdoğan macht kein Geheimnis daraus, dass er den Kurswechsel in der Geldpolitik nicht aus Überzeugung, sondern aufgrund einer Notwendigkeit vollzog, weil die Finanzierung des Leistungsbilanzdefizits zunehmend schwierig wurde. Er will so schnell wie möglich wieder zur früheren, auf schnelles Wirtschaftswachstum setzenden Wirtschaftspolitik zurückkehren. Genau hierin liegt auch eines der Kernprobleme des türkischen Präsidialsystems: Entscheidungen werden abgeschirmt im Präsidentenpalast vorbereitet, ohne dass Ministerien oder das Parlament konsultiert werden müssen. Mangelnde Vorhersehbarkeit und das beschädigte Ansehen der Zentralbank hemmen internationale Investitionen, die benötigt werden, um das Leistungsbilanzdefizit zu auszugleichen.
Steuererhöhungen nach den Wahlen
Am 14. Juli verabschiedete das Parlament einen Nachtragshaushalt in Höhe von 1.119 Mrd. TL. In gleicher Höhe sollen Mehreinnahmen erzielt werden, überwiegend aus Steuern. Neben der allgemeinen Mehrwertsteuer wurde auch der Prozentsatz für Produkte des täglichen Bedarfs wie z.B. Reinigungsmittel angehoben. Mitte Juli machte der Staatspräsident zudem von der Vollmacht Gebrauch, einige Steuersätze um das Dreifache zu erhöhen. Betroffen war die besondere Mehrwertsteuer auf Kraftstoffe. Zusammen mit dem Wertverfall der Türkischen Lira brachte dies über Nacht einen Rekordanstieg bei Benzin und Diesel.
Der Hintergrund dieser unpopulären Maßnahmen zeigt sich in der Haushaltsperformanz des ersten Halbjahres 2023. Allein im Juni lag das Haushaltsdefizit bei 220 Mrd. TL. Eine Ursache ist, dass beispielsweise die Transfers an die Sozialversicherung SGK um 9 Mrd. TL auf insgesamt 33 Mrd. TL anstiegen. Einer der Gründe für den Anstieg ist die im April ermöglichte Frühverrentung – und dabei schlägt diese noch gar nicht voll zu Buche. Es gibt einen beträchtlichen Bearbeitungsstau, der vermutlich erst zum Herbst abgearbeitet sein wird. Die Transfers an Kommunen wiederum haben sich mehr als verdoppelt. Dies kann teilweise mit den durch Inflation und Gehaltserhöhungen gestiegenen Kosten erklärt werden. Doch auch der anstehende Kommunalwahlkampf dürfte bereits eine Rolle spielen.
Neben der Anhebung der Mehrwertsteuersätze sollen auch höhere Unternehmens- und Transaktionssteuern eingeführt werden. Begründet wurde die Steuererhöhung seitens der Regierung mit dem Finanzbedarf für den Wiederaufbau nach den schweren Erdbeben im Südosten der Türkei, der auf mehr als 100 Milliarden Dollar geschätzt wird.
Ein halbes Jahr nach dem Erdbeben
Die Erdbeben am 6. Februar 2023 verursachten schwere Schäden in elf Provinzen im Südosten der Türkei. Mindestens 50.000 Menschen starben, ganze Städte wurden weitgehend zerstört, neben zehntausenden Verletzten wurden Hunderttausende obdachlos. Rund drei Millionen Menschen haben die Region verlassen, in der Region sind mehr als fünf Millionen Menschen weiterhin auf Hilfe angewiesen. Hunderttausende leben in Zelt- oder Container-Städten. Nach wie vor gibt es Probleme bei der Unterbringung und Wasserversorgung.
Die Regierung kommunizierte die Katastrophe als „Jahrhunderterdbeben“, die Opposition als „Jahrhundertversagen“. Die Regierung setzt auf schnellen Wiederaufbau, die Opposition fordert eine politische Aufarbeitung. Beide Forderungen sind begründet. Die Menschen in der Region brauchen vor allem Wohnungen, Arbeit und Infrastruktur. Die Eile beim Wiederaufbau birgt jedoch auch neue Risiken.
Bereits wenige Wochen nach dem Erdbeben mit der Vergabe öffentlicher Bauaufträge begonnen. Einer Recherche von Çiğdem Toker für das Nachrichtenportal T24 zufolge erfolgten diese Vergaben nach einer Ausnahmebestimmung für Katastrophenfälle, ein Verfahren, das aufgrund seiner Intransparenz und höheren Kosten kritisiert wird. Neben dem Bau- wurde auch das Planungsrecht teilweise außer Kraft gesetzt. So können landwirtschaftliche Flächen und Olivenhaine, die gesetzlich geschützt sind, per Dekret zu Bauland umgewidmet, im Eilverfahren verstaatlicht und den Bauunternehmen übergeben werden.
Eine weitere Herausforderung im Erdbebengebiet sind Abtransport und Lagerung des Bauschutts eingestürzter und abgerissener Häuser. Die Staubbelastung ist hoch, die Sorge vor der Ausbreitung von Asbeststaub groß. Die Vorkehrungen bei Transport und Lagerung des Schutts sind jedoch oft unzureichend.
Aussenpolitik
Türkei gibt Widerstand gegen NATO-Mitgliedschaft von Schweden auf
Im Vorfeld des NATO-Gipfels von Vilnius im Juli 2023 trafen Staatspräsident Erdoğan, der schwedische Ministerpräsident Kristersson und NATO-Generalsekretär Stoltenberg zusammen, um in letzter Minute die türkische Zustimmung zum NATO-Beitritt Schwedens zu verhandeln. Zunächst hatte die türkische Regierung sich gegen die Erweiterung des Bündnisses um Finnland und Schweden ausgesprochen. Nach langen Verhandlungen erweiterte Schweden sein Anti-Terrorgesetz und wendet es auch an: Der türkische Dienst der BBC berichtet über eine Verurteilung eines Kurden aus der Türkei im Juni 2023, dem bewaffnete Erpressung zugunsten der PKK vorgeworfen wurde. Außerdem wurde dessen Abschiebung angeordnet.
Dann wurde der Beitrittsprozess durch öffentliche Koran-Verbrennungen in Schweden jedoch erneut belastet. In der Schlussphase der Verhandlungen ging es schließlich um einen bunten Strauß von Forderungen der Türkei: Die Verhandlungen über die Zollunion mit der EU sollten wieder aufgenommen werden, ebenso die Visumsfreiheit im Schengen-Raum. Kanada solle das Embargo für Zulieferteile für die türkische Drohnenindustrie aufheben. Von den USA erwartet die türkische Regierung die Genehmigung für den Kauf von F16-Kampfjets.
Nach intensiven Verhandlungen einigte man sich schließlich auf einen Sieben-Punkte-Plan. Staatspräsident Erdoğan sicherte zu, das Protokoll für den Beitritt Schwedens sobald wie möglich dem türkischen Parlament zur Ratifizierung vorzulegen.
Neues Interesse der türkischen Regierung an der EU
Als Staatspräsident Erdoğan dem NATO-Beitritt Schwedens zustimmte, forderte er zugleich eine Wiederbelebung des EU-Beitrittsprozesses. Der Vorstoß kam etwas unvermittelt bereits vor dem Gipfel, wurde dann aber auch von NATO-Generalsekretär Stoltenberg aufgegriffen, der erklärte, dass er eine EU-Mitgliedschaft der Türkei befürworte - da es ihn nichts kostete, dürfte ihm diese Unterstützung leicht gefallen sein. Nach dem Gipfel erklärte Erdoğan, dass er nun konkrete Schritte von der EU erwarte. In den veröffentlichten Berichten hat jedoch nur die schwedische Regierung versprochen, sich in der EU für die Wiederbelebung der Beitrittsverhandlungen einzusetzen. Gleichwohl verfügt die türkische Regierung noch über den Trumpf, dass es in der Vereinbarung von Vilnius keinen Termin für die Zustimmung durch das türkische Parlament gibt – das sich derzeit in der Sitzungspause befindet und das neue Gesetzgebungsjahr erst im Oktober wieder beginnt.
Das Europaparlament reagierte irritiert auf diese Entwicklung. Das außenpolitische Komitee beschloss am 18. Juli 2023 eine Resolution, in der eine Verbindung zwischen Schwedens NATO-Mitgliedschaft und den EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei zurückgewiesen wird.
Betrachtet man die Türkei-Berichte der EU-Kommission und des EU-Parlaments in den letzten Jahren, so sind sie Dokumente, die Stillstand und Rückschritte auflisten. Auch wenn die Verantwortung dafür nicht allein bei der türkischen Regierung liegt, so ist der Verfall von Demokratie, Menschenrechten und Rechtstaatlichkeit in der Türkei allein ihr zuzuschreiben. Signale dafür, dass Staatspräsident Erdoğan hier eine Kehrtwende machen wollte, gibt es nicht. Und so wirkt die plötzliche Rückbesinnung auf die EU eher wie ein Ablenkungs- oder Verhandlungsmanöver.
Einem Bericht in der regierungsnahen Tageszeitung zufolge will die türkische Regierung jedoch einige Schritte unternehmen, um zumindest bei den Verhandlungen über die Visafreiheit im Schengen-Raum weiterzukommen. Die meisten von der EU gestellten Bedingungen hat die Türkei erfüllt. Von den sechs verbliebenen Kriterien erweisen sich jedoch zwei als schwer umsetzbar. Die EU fordert zum einen eine Revision des Anti-Terrorgesetzes, um die Meinungsfreiheit sicherzustellen. Außerdem hatte die EU verlangt, dass die Türkei die Empfehlungen des Europarates zur Korruptionsbekämpfung umsetzt und dazu einen Aktionsplan vorlegt. Wegen der fehlenden Umsetzung dieser Empfehlungen wurde die Türkei bereits auf die Graue Liste von Ländern genommen, die nicht ausreichend gegen Korruption und Geldwäsche vorgehen.
Aus unserer Arbeit
Im Zuge der Parlaments- und Präsidentschaftswahlen gab es zahlreiche Medienbeiträge der FES Türkei. Eine Auswahl finden Sie untenstehend:
- In der IPG berichteten Henrik Meyer und Antonia Tilly aus der FES Türkei: Über den „final Countdown“ (11.05.2023) vor den Wahlen am 14. Mai, mit einer Analyse der ersten Wahlrunde - „Die Polarisierung der Türkei in zwei Lager geht weiter“ (15.05.2023) – und einem Bericht nach der Stichwahl („Die Stimmung ist so gespalten wie das Land selbst“, 30.05.2023).
- In der ZEIT-Sonderfolge „Vom Hoffnungsträger zum Autokraten“ spricht Henrik Meyer mit Elise Landschek über den Rückhalt von Präsident Erdoğan in der Türkei, die Chancen von Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu in der Stichwahl und einem möglichen Wandel in der Türkei (27.05.2023).
- Henrik Meyer konstatierte in seinem Artikel im Tagesspiegel, dass Europa auf einen Machtwechsel in der Türkei nicht vorbereitet sei (10.05.2023). Für die FAZ gab er seine Einschätzung zum Präsidentschaftskandidaten Kemal Kılıçdaroğlu, dem türkischen Olaf Scholz (10.05.2023). Nach den Wahlen berichtet er für die Deutsche Welle über Erdogans scharfe Töne nach dem Wahlsieg (30.05.2023).
- Antonia Tilly diskutiert mit detektor.fm darüber, ob das Erdbeben Erdogan den Wahlsieg kosten könnte (12.05.2023) und wie gespalten die türkische Gesellschaft nach der Wahl ist (30.05.2023).
- Im April besuchte die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, Aydan Özoğuz, das Büro der FES Türkei in Istanbul und diskutierte dort mit türkischen Meinungsforschern und Expert_innen.
- Ebenfalls besuchten uns Christian Petry, europapolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, und Michelle Müntefering, MdB, um sich über die Situation in der Türkei vor den Wahlen zu informieren.
Zu der Situation in der Türkei sechs Monate nach den Erdbeben berichtet Antonia Tilly bei RadioEins: Umsiedlung in Containerstädte bei 40 Grad Hitze (04.08.2023)
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