AKP und CHP im Dialog
DIALOG ALS SPIEGEL VERÄNDERTER POLITISCHER REALITÄTEN
Mehr als eine tatsächliche Veränderung der Machtverhältnisse hat das Ergebnis der Kommunalwahlen vom 31. März die Stimmung im Land verändert. Besonders die Republikanische Volkspartei (CHP) unter ihrem neuen Vorsitzenden Özgür Özel sowie der wiedergewählte Istanbuler Bürgermeister Ekrem İmamoğlu gewannen landesweit an Popularität, während es im Regierungsbündnis zu mehreren offenen Konflikten kam. Es ist kein Zufall, dass diese Konflikte sich insbesondere um die neue Dialogpolitik zwischen der CHP und der AKP entzündeten. Diese Dialogpolitik hatte am 4. Mai mit einem Besuch von Özgür Özel bei Staatspräsident Erdoğan in der Zentrale der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) begonnen und wurde mit einem Gegenbesuch Erdoğans am 11. Juni in der CHP-Parteizentale fortgesetzt.
Polarisierung statt Dialog
Von einer Konsenskultur kann in der türkischen Politik nicht gesprochen werden. Doch zielte insbesondere seit 2017 die Wahlkampfstrategie von Staatspräsident Erdoğan darauf ab, die Ablehnung seiner Anhänger:innen zur offenen Feindschaft gegen die Oppositionsparteien aufzuheizen. Der wichtigste Hebel hierbei war der Kampf gegen die PKK. Nachdem im Sommer 2015 der Versuch einer friedlichen Lösung des Kurdenkonflikts abgebrochen worden war und einer militärischen Lösungsstrategie Platz gemacht hatte, begann im politischen Diskurs zunächst die Gleichsetzung der linkskurdischen HDP (Demokratische Partei der Völker) mit der PKK durch das Regierungsbündnis. Es folgte die Verhaftung der damaligen Co-Vorsitzenden der HDP, Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ. Ermöglicht wurde diese durch die Aufhebung ihrer parlamentarischen Immunität, der auch die CHP zustimmte. Doch während die CHP mit ihrer Zustimmung gleichsam ihre Unterstützung für die Staatsräson signalisierte, machte die Verhaftung ihres eigenen Abgeordneten Enis Berberoğlu auch deutlich, dass die Kriminalisierung nicht nur auf die HDP beschränkt bleiben würde.
Sowohl im Parlaments- und Präsidentenwahlkampf 2018 als auch 2023 war die Unterstellung, dass die Oppositionsparteien sich mit Staatsfeinden eingelassen hätten, ein zentrales Wahlkampfmotiv. Während das Regierungsbündnis die Wahlen als Existenzfrage für die türkische Nation darstellte, lehnte Staatspräsident Erdoğan jeglichen offenen Dialog ab, einschließlich einer Fernsehdiskussion mit seinem Gegenkandidaten.
Tee beim Ramadanfest
Özgür Özels Wahl zum Nachfolger von Kemal Kılıçdaroğlu als Vorsitzender der CHP im November 2023 hatte der Partei nach der tiefen Resignation nach der Wahlniederlage zunächst einen Stimmungsaufschwung verschafft. Dieser Auftrieb verpuffte jedoch zu einem bedeutenden Teil während des zähen Nominierungsprozesses der Bürgermeisterkandidat:innen für die Kommunalwahl. Doch durch die enge Zusammenarbeit von Özel mit den Bürgermeistern Ekrem İmamoğlu und Mansur Yavaş wendete sich das Blatt und mündete in einem unerwartet klaren Sieg bei der Kommunalwahl, bei der die CHP auch ohne Bündnis mit den früheren Partnerparteien zur stärksten politischen Kraft aufstieg. Trotz seiner harten Wahlkampfrhetorik hatte Özel bereits im März Interesse an einem Gespräch mit Staatspräsident Erdoğan gezeigt. Eine erste Gelegenheit dafür bot sich am Rande einer Ramadanfeier im Parlament, zu der der Parlamentspräsident die Fraktionsvorsitzenden mehrerer Parteien zu Tee eingeladen hatte. Hier trafen auch Staatspräsident Erdoğan und Özgür Özel zusammen, wobei Erdoğan erklärte, wie wichtig es sei, durch direkte Gespräche die politischen Fronten aufzuweichen.
Zu offiziellen Gesprächen kam es dann mit den gegenseitigen Besuchen in den jeweiligen Parteizentralen am 4. Mai und 11. Juni. Neben den Inhalten der beiden Spitzengespräche ging es beiden Parteien auch um die Deutungshoheit. Während Staatspräsident Erdoğan den Aspekt der Aufweichung der politischen Fronten zum Wohle des Landes in den Vordergrund stellte, präferierte Özgür Özel den Begriff der „Normalisierung“. Als Antwort auf die Kritik des früheren CHP-Vorsitzenden Kemal Kılıçdaroğlu, der betonte, dass man nicht mit dem Präsidentenpalast sprechen, sondern diesen bekämpfen müsse, erklärte Özgür Özel, dass der Dialog eine Form des Kampfes sei. Auch stellte er klar, dass Normalität in diesem Sinne die Verwirklichung demokratischer Normen bedeute.
Dennoch weckte der Begriff „Normalisierung“ auch Erwartungen, die sich nicht kurzfristig erfüllten. Auf der anderen Seite zeigten Ereignisse wie der harte Polizeieinsatz gegen die 1. Mai-Kundgebung in Istanbul, hohe Haftstrafen gegen HDP-Spitzenpolitiker:innen, darunter Selahattin Demirtaş im Kobane-Prozess, die Abriegelung der Istanbuler Innenstadt zum Jahrestag der Gezi-Park-Proteste und die Einsetzung eines Zwangsverwalters in Hakkari deutlich, dass für die Regierung der eingeleitete Dialog nicht gleichbedeutend mit einer Wiederherstellung politischer Freiheitsrechte ist – mehr dazu in den Kapiteln „Innenpolitik“ und „Menschenrechte“.
Eine neue Verfassung und die Tagesordnung der Bevölkerung
Für Staatspräsident Erdoğan war das einzige vor den Gesprächen bekannt gegebene Thema sein Vorhaben einer neuen Verfassung. Die CHP hingegen hatte eine Vielzahl von Themen, die teilweise auch in Form von Dossiers dem Staatspräsidenten übergeben werden sollten. Diese umfassten soziale Fragen wie Mindestlohn und Mindestrente sowie die Schulden der bei den Kommunalwahlen neu gewonnenen Kommunen und verschiedene politische Prozesse. Angesprochen wurden auch die Situation der inhaftierten Generäle, die 1998 ein Memorandum gegen die Regierung veröffentlicht hatten, der Inhaftierten im Gezi-Park-Prozess sowie die Nichtumsetzung von Urteilen des Verfassungsgerichts und des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte.
Kurz nach dem ersten Gespräch mit Özgür Özel begnadigte Staatspräsident Erdoğan die Generäle, wobei für sie ohnehin Haftunfähigkeitsatteste vorlagen. Andererseits zeigen andere Fälle, dass solche Atteste nicht zwangsläufig zu einer Freilassung führen. Im Hinblick auf die genannten Einzelthemen war dies das erste und bisher einzige konkrete Ergebnis der Spitzengespräche.
Zur Frage der neuen Verfassung hatte Özgür Özel bereits vor den Gesprächen erklärt, dass es eine Voraussetzung für Verfassungsgespräche sein müsse, die bestehende Verfassung einzuhalten. Nach dem zweiten Gespräch betonte er besonders, dass es nicht nur um die Themen der Politiker:innen gehen müsse, sondern vor allem um die Anliegen der Bevölkerung. Diese interessiere sich momentan weniger für eine neue Verfassung als vielmehr für Lösungen für ihre materiellen Notlagen.
Die Tatsache, dass nach den Spitzengesprächen keine gemeinsame Presserklärung oder gar Pressekonferenz stattfand, deutet möglicherweise darauf hin, dass der Gesprächsprozess offengehalten werden soll. Gesprächsthemen werden nach und nach öffentlich gemacht, wobei unklar bleibt, was genau die Gesprächspartner dazu gesagt haben.
Nach dem Gespräch vom 11. Juni 2024 zeigte sich die mit der AKP kooperierende MHP deutlich beunruhigt. Unter den Themen, die Özgür Özel ansprach, war auch der Prozess um den Mord am früheren Vorsitzenden der Ülkü Ocakları (in Deutschland als Graue Wölfe bekannt), Sinan Ateş. Vieles deutet darauf hin, dass bei der Anklageschrift Druck auf Polizei und Justiz ausgeübt wurde, um Verbindungen zwischen der MHP und diesem Mord möglichst außerhalb des Verfahrens zu halten. Gleichzeitig entstand der paradox anmutende Eindruck, dass die Opposition ein größeres Interesse an der Aufklärung des Mordes und seiner Hintergründe zeigt als die MHP, die in einem symbiotischen Verhältnis zu den Ülkü Ocakları steht. Nach einigen Polemiken stellte jedoch der MHP-Vorsitzende klar, dass seine Partei nicht nach einer Alternative zum Regierungsbündnis suche.
Dies wirft zugleich ein Licht auf die Ziele, die die verschiedenen Akteure mit der Dialogpolitik verfolgen. Seit Beginn der Zusammenarbeit mit der MHP im Sommer 2015 ist die Abhängigkeit der AKP von ihrem kleineren Partner stets gewachsen. Dies liegt zum einen an der Bestimmung für die Wahl zum Amt des Staatspräsidenten, die eine Mehrheit von mehr als 50 Prozent der Stimmen erfordert – eine Mehrheit, die ohne ein Bündnis derzeit kaum von der AKP gesichert werden kann. Zum anderen hat sich die AKP seit 2015 in Fragen der Sicherheitspolitik und des Nationalismus weitgehend den Positionen der MHP angenähert. Ein Dialog mit der CHP könnte unter diesen Umständen Staatspräsident Erdoğan mehr Handlungsspielraum verschaffen. Ein weiterer Aspekt ist zudem, dass zwar in den nächsten vier Jahren keine Wahlen anstehen, die absehbaren sozialen Spannungen aufgrund des Inflationsbekämpfungsprogramms in Kooperation mit der CHP jedoch möglicherweise einfacher zu bewältigen sind.
Aus der Sicht der CHP wiederum geht es darum, wenigstens zu einem minimalen Anteil in Regierungsentscheidungen einbezogen zu werden. Hinzu kommen die bei den Gesprächen vorgetragenen Einzelfragen, unter denen die Kommunalfinanzen der CHP besonders auf den Nägeln brennen dürften. Im Kommunalwahlkampf hat die CHP hohe Erwartungen geweckt und will jetzt durch eine erfolgreiche Kommunalpolitik ihre Regierungskompetenz unter Beweis stellen. Anders als unter dem Vorsitz von Kemal Kılıçdaroğlu setzt die CHP nun auch auf Kundgebungen, mit denen sie sich zum Sprachrohr benachteiligter Bevölkerungsgruppen machen will. Dies begann mit einer Veranstaltung zur Erhöhung der Mindestrente und setzte sich mit Protesten gegen die Festsetzung der Aufkaufpreise für Tee und Weizen fort.
Die große Anzahl neu gewonnener Kommunen hat der CHP erstmals seit Jahrzehnten die Möglichkeit gegeben, den Vorsitz der Kommunalunion TBB zu übernehmen. Diese spielt nicht nur für den Dialog zwischen Kommunen und Regierung eine Schlüsselrolle, sondern auch bei der Finanzierung kommunaler Projekte. Zum Vorsitzenden der Kommunalunion wurde Ekrem İmamoğlu gewählt, der damit über eine weitere Gelegenheit verfügt, über Istanbul hinaus politisch wirksam zu werden. So stellte er bei seinem Besuch in Köln und Berlin Mitte Juni nicht nur die vielfältigen Partnerschaften zwischen deutschen und türkischen Städten heraus, sondern führte auch Gespräche mit Außenministerin Annalena Baerbock, Finanzminister Christian Lindner und dem Parlamentarischen Staatssekretär im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Nils Annen. Zudem traf sich İmamoğlu mit der BDI-Präsidentin Tanja Gönner.
INNENPOLITIK
Der Ausgang der Kommunalwahl hat Wandlungsbedarf gezeigt – nicht zuletzt für die regierende AKP. Doch in dieser Partei, die bisher größte Geschlossenheit nach Außen zeigte, treten immer häufiger Konflikte zwischen „Alten“ und „Neuen“ zu Tage. Auf der anderen Seite zeigt die Einsetzung eines Zwangsverwalters in der Provinzhauptstadt Hakkari, dass zumindest die innenpolitische Härte nicht zur Disposition steht.
Die AKP muss sich neu erfinden
Die Kommunalwahl hat deutlich gemacht, dass die AKP vor einigen Entscheidungen steht, die nicht mehr lange aufgeschoben werden können. Sollte es weder zu einer vorgezogenen Parlaments- und Präsidentschaftswahl noch zu einer Verfassungsänderung kommen, wird dies die letzte Amtszeit von Staatspräsident Erdoğan sein. Alle Politiker, die noch Anfang 2023 als mögliche Anwärter für die Nachfolge des Staatspräsidenten galten – wie der Verteidigungsminister Hulusi Akar und Innenminister Süleyman Soylu – hat Erdoğan durch ihre Überführung ins Parlament weitgehend entmachtet. Seine früheren Mitstreiter:innen aus der Aufbauzeit der Partei hat er ohnehin vollständig an den Rand gedrängt.
Die Kommunalwahl hat außerdem gezeigt, dass mit der Neuen Wohlfahrtspartei (YRP) von Fatih Erbakan nun eine islamisch-konservative Partei entstanden ist, die für die AKP-Basis eine Alternative darstellt. Sie greift grundlegende Schwächen in der AKP-Politik auf, wie etwa die aus ihrer Sicht halbherzige Unterstützung der Palästinenser:innen in Gaza. Ein zweites Element ihrer Politik ist die Betonung der Rückkehr zu den ursprünglichen Werten der politisch-islamischen Bewegung Milli Görüş und die Anprangerung von Korruption und Luxus auf Staatskosten durch AKP-Funktionäre und Beamt:innen.
Erdoğan selbst hat in der Vergangenheit immer wieder von einer „Metallermüdung“ gesprochen und versucht, durch das Austauschen von Funktionären und Minister:innen gegenzusteuern. Der mäßige Erfolg dieser Maßnahmen deutet darauf hin, dass es Erdoğans uneingeschränkte Kontrolle über Personalfragen ist, die zu einem schnellen Verschleiß der Partei beiträgt.
Das Bündnis der AKP mit der MHP hat zudem zu einer ideologischen Verschiebung geführt. Während Sicherheitspolitik und Nationalismus nun im Zentrum der AKP-Politik stehen, scheiterte das ideologische Projekt einer „unorthodoxen Geldpolitik“ mit erheblichen politischen Folgekosten. Der Slogan für die aktuelle Regierungsperiode ist, dass die Türkei in der Region und der Welt in den nächsten hundert Jahren prägend sein werde. Doch dieser Slogan zielt mehr auf den Nationalstolz ab und bietet keine konkreten Hoffnungen auf die Lösung der Alltagsprobleme der Menschen.
In der Bildungspolitik haben zudem zahlreiche Änderungen im Schulwesen zu einem massiven Vertrauensverlust geführt. Der jüngste Vorstoß in diesem Bereich war die Einführung eines neuen Lehrplans, der mit dem Slogan vom „Türkei-Jahrhundert“ verbunden wurde. Im Fokus steht nicht, wie international üblich, der Erwerb von Kompetenzen, sondern die Werteerziehung. Dies hat der AKP den Vorwurf eingebracht, eine Art AKP-Lehrplan zu präsentieren. Zusätzlich wurde der Lehrplanentwurf Bildungsinstitutionen und –verbänden mit einer einwöchigen Frist zur Stellungnahme zugesandt. Nach Ablauf dieser Frist wurde er ohne Änderungen verabschiedet und im Staatsanzeiger veröffentlicht. Offensichtlich war kein ernsthaftes Bemühen um eine Diskussion über den Lehrplan vorhanden, da eine Woche nicht ausreicht, um fundierte Stellungnahmen zu formulieren und die eingegangenen Rückmeldungen nicht berücksichtigt wurden.
Es gehört zu den Paradoxien der AKP, dass sie einerseits ganz im Sinne konservativer Parteien die Familie in den Mittelpunkt der Gesellschaft stellt, auf der anderen Seite dieser eine ihrer wesentlichen Funktionen, die Werteerziehung, entziehen will. Ein Beispiel hierfür ist die umfangreiche Förderung der religionsorientierten Imam-Hatip-Oberschulen in dem Bestreben, sie zur dominierenden Schulform zu machen, was sich als massiver Misserfolg herausgestellt hat. Auch der Versuch, eine „fromme Generation“ heranzubilden hat nur dazu geführt, dass viele junge Menschen verstärkt auf die Suche nach Sinnstiftung jenseits des klassischen Islam gehen.
Zwei Klausurtagungen von Partei, Fraktion und Bürgermeister:innen sollten nicht nur die Ergebnisse der Kommunalwahlen auswerten, sondern auch die Weichen für die Politik der nächsten drei Jahre stellen. Den öffentlich gemachten Informationen zufolge wurde beschlossen, dass man nochmals eine gründliche Analyse durchführen werde, um im kommenden Jahr zu Entscheidungen zu gelangen. Dies lässt den Eindruck einer Stagnation der AKP entstehen, die mit einem trotzigen „Augen zu und durch“ vorerst die sozialen Kosten des Inflationsbekämpfungsprogramms aussitzen will.
Rückkehr der Zwangsverwalter
Am 3. Juni 2024 wurde der Bürgermeister von Hakkari, Mehmet Sıddık Akış von der linkskurdischen DEM-Partei, im Zuge einer Untersuchung wegen „Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung“ verhaftet. Am gleichen Tag wurde er vom Innenministerium abgesetzt und durch den Provinzgouverneur als Zwangsverwalter ersetzt. Zusätzlich zu den aktuellen Ermittlungen wurde auf ein bereits 2014 eingeleitetes Strafverfahren gegen ihn verwiesen. Zwei Tage später endete dieses zehnjährige Verfahren mit einer Verurteilung zu 19,5 Jahren Haft wegen „führender Position in einer Terrororganisation“.
Mit der Entscheidung, den Bürgermeister abzusetzen wurde in Hakkari ein zehntägiges Verbot aller öffentlichen Proteste verhängt. Eine Protestkundgebung in Hakkari nach Ablauf dieser Frist wurde durch Straßenkontrollen behindert, trotzdem nahmen Tausende teil. Die CHP hat sich grundsätzlich gegen die Einsetzung von Zwangsverwalter:innen ausgesprochen und entsandte eine Delegation nach Hakkari.
Die Ersetzung von gewählten Bürgermeister:innen durch Provinzgouverneur:innen in Provinzhauptstädten und Landrät:innn in Kreisstädten führt die kommunale Demokratie ad absurdum. Mehmet Sıddık Akış war gerade einen Monat im Amt und seine Wählbarkeit wurde erst im Februar bestätigt. Für eine Absetzung genügt die Einleitung eines Untersuchungsverfahrens aus dem weit dehnbaren Katalog der Terrorismusstraftatbestände, eine rechtskräftigte Verurteilung ist dazu nicht nötig. Dass in einem solchen Fall das Innenministerium einen Zwangsverwalter einsetzen kann und nicht der Stadtrat eine kommissarische Nachfolge wählt, widerspricht zudem dem rechtsstaatlichen Grundsatz der Individualität einer Straftat.
Der AKP-Abgeordnete Haluk İpek gibt an, dass derzeit gegen dreißig DEM-Bürgermeister:innen Ermittlungsverfahren laufen. Hinzu kommt die Verurteilung von Ahmet Türk, dem Bürgermeister der Provinzhauptstadt Mardin, im Kobane-Verfahren wegen „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation“. Staatspräsident Erdoğan erklärte, dass er an der Einsetzung von Zwangsverwaltern festhalten wolle.
MENSCHENRECHTE UND PRESSEFREIHEIT
Ein Schlaglicht auf die Unabhängigkeit der Justiz warf die Wahl des Präsidenten des Kassationsgerichtshofes. Als sich der von den innenpolitischen Hardlinern unterstützte Kandidat nicht durchsetzen konnte, wurde er vom Staatspräsidenten zum Generalstaatsanwalt am Kassationsgerichtshof berufen. Das Kobane-Verfahren endete wie erwartet mit hohen Haftstrafen gegen führende HDP-Politiker:innen. Doch erreichten die Samstagsmütter einen kleinen Erfolg, als ihr tausendster Protest gegen das Verschwinden von Menschen im Polizeigewahrsam wieder zugelassen wurde.
Schuldsprüche im Kobane-Verfahren
Am 15. Mai 2024 endete das Kobane-Verfahren mit harten Urteilen gegen zahlreiche führende HDP-Politiker:innen. Die früheren HDP Co-Vorsitzenden Figen Yüksekdağ und Selahattin Demirtaş wurden zu 30 bzw. 42 Jahren Haft verurteilt. Auslöser des Prozesses waren die Unruhen während des Opferfestes vom 6. bis 9. Oktober 2014, bei denen vor allem in den südöstlichen Provinzen 46 Personen getötet und 682 verletzt wurden. Die Unruhen brachen aus, nachdem der HDP-Vorstand gegen die Entscheidung der Regierung protestierte, keine Waffenlieferungen an die vom IS im syrischen Kobane belagerten Kurd:innen zuzulassen. Dabei kam es zu Zusammenstößen zwischen PKK-Militanten, Anhängern der kurdisch-islamischen Hüda-Par, Nationalisten (Ülkücüler) und später auch der Polizei. Nach den Unruhen setzte die Regierung für drei Monate die Gespräche zur friedlichen Lösung der Kurdenfrage aus, die nach der Nichtunterzeichnung einer gemeinsamen Deklaration von AKP und HDP im Februar 2015 im Dolmabahçe-Palast ganz zum Erliegen kam.
Ursprünglich sollte mit dem Strafverfahren der damalige Vorstand der HDP für die Todesopfer während der Unruhen verantwortlich gemacht werden. Das zuständige Strafgericht in Ankara verzichtete jedoch darauf und verurteilte stattdessen zentrale HDP-Politiker:innen, die sich für den von der Regierung eingeleiteten Prozess zur friedlichen Lösung der Kurdenfrage eingesetzt hatten. Dabei ließ das Gericht die Belagerung von Kobane durch den IS außer Acht, deren humanitäre Folgen bei einem Erfolg des IS absehbar gewesen wären. Das Gericht ging zudem nicht auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte ein, der bereits vor Jahren auf die Klage von Selahattin Demirtaş hin das Verfahren als substanzlos und politisch motiviert verurteilt hatte. Somit beruht die hohe Strafe gegen Selahattin Demirtaş nicht auf seiner angeblichen Verantwortung für die Unruhen, sondern auf 47 Einzelvorwürfen, die sich überwiegend auf politische Reden stützen.
DEM-Politiker:innen erklärten, dass sie von dem Urteil nicht überrascht seien. Für sie ist das Urteil ein weiterer Rückschlag in ihrem Kampf um politische Freiheiten. Ihre Forderung an die CHP ist, sich der politischen Tragweite des Urteils bewusst zu sein und dieses nicht während der parallel laufenden Bemühungen um “Normalisierung” (s. oben) zu bagatellisieren. Özgür Özel wiederum betonte, dass er das Urteil nicht als eine juristische, sondern als eine politische Entscheidung bewerte.
Deal am Kassationsgerichtshof
Stolze 37 Wahlgänge waren nötig, bis eine Entscheidung getroffen wurde. Der Gerichtspräsident wird nach dem Prinzip der absoluten Mehrheit der Wahlberechtigten gewählt. Ursprünglich gab es drei Kandidaten. Der dritte Kandidat hatte sich nach dem 34. Wahlgang zurückgezogen und sich für den amtierenden Gerichtspräsidenten eingesetzt. Zugleich bewarb er sich um die Position des Generalstaatsanwalts am Kassationsgerichtshof. Hier wird zwar auch gewählt, doch die Entscheidung über die Berufung fällt Staatspräsident Erdoğan unter den fünf Kandidat:innen mit den meisten Stimmen. Die Entscheidung des zurückgetretenen Kandidaten, den amtierenden Präsidenten zu unterstützen und sich selbst für die Position des Generalstaatsanwalts zu bewerben, wurde von Beobachter:innen als Einflussnahme der Präsidialverwaltung kritisiert. Dieser Eindruck wurde verstärkt, als der zurückgetretene Kandidat unmittelbar danach vom Staatspräsidenten zum Generalstaatsanwalt ernannt wurde. Gewählt wurde jedoch Ömer Kerkez, der bisher bei der dritten Kammer für Zivilrecht am Kassationsgerichtshof tätig war.
Der neue Generalstaatsanwalt Muhsin Şentürk wiederum wurde insbesondere durch den Konflikt zwischen dem Kassationsgerichtshof und dem Verfassungsgericht bekannt. Er war Vorsitzender der Kammer, die sich weigerte, das Urteil auf Freilassung des Abgeordneten Can Atalay umzusetzen. Das Verfassungsgericht argumentierte, dass die parlamentarische Immunität gemäß der Verfassung gewährt wurde. Die Strafkammer hingegen sah die Immunität als verwirkt an, da ein Grundrecht nicht gegen die Verfassung selbst genutzt werden könne. Can Atalay war im vergangenen Jahr als Abgeordneter der Nationalversammlung gewählt und kurz nach der Wahl vom Kassationsgerichtshof wegen seiner Beteiligung an den Gezi-Park-Protesten zu einer 18-jährigen Freiheitsstrafe verurteilt worden.
Politik, Justiz und organisiertes Verbrechen
Neben dem Strafprozess im Falle des 2022 erschossenen früheren Vorsitzenden der Ülkü Ocakları (Grauen Wölfe), Sinan Ateş, erregte das Verfahren gegen Ayhan Bora Kaplan wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung große Aufmerksamkeit. Bereits kurz nach seiner Eröffnung erreichte das Verfahren eine Dimension, die bis zur Festnahme von Mitgliedern der Polizeiführung führte.
Bis zum Putschversuch von 2016 galt Ayhan Bora Kaplan als ein Kleinkrimineller in Ankara. Auf einem Foto der Putschnacht posierten er und seine Leute mit Gewehren vor dem Gebäude des türkischen Senders TRT in Ankara. Wie sich herausstellte, waren sie vom späteren Innenminister Soylu herbeigerufen worden. In der Folge wurden Vorwürfe erhoben, Kaplan und seine Leute seien von der Polizei geschützt und Haftstrafen verkürzt worden, Staatsanwaltschaften hätten Ermittlungsverfahren geschlossen und staatliche Banken Kaplan Kredite in Höhe von 1,5 Mrd. TL zur Verfügung gestellt. Die Nummer 2 der kriminellen Organisation meldete sich als verdeckter Zeuge, wurde unter Hausarrest gestellt, konnte aber von dort entkommen, indem er das Signal seiner elektronischen Fußfessel unterdrückte. Der flüchtige Zeuge veröffentlichte eine Videoerklärung, in der er behauptete, man habe ihn zwingen wollen, gegen mehrere Personen aus der Regierung und dem direkten Umfeld des Staatspräsidenten auszusagen. Der MHP-Vorsitzende Bahçeli deutete das Video als Beweis für den Versuch eines Staatsstreiches. Ein Vizepolizeichef und der Leiter der Abteilung organisierte Kriminalität sowie weitere Beamte wurden suspendiert und inhaftiert. Es bleibt unklar, ob es sich um ein Komplott gegen Innenminister Yerlikaya handelt oder um den Versuch, soviel Verwirrung in das Strafverfahren gegen Kaplan zu bringen, dass dieses im Sande verläuft. Es ergibt sich jedoch ein Bild von Bestechung, Protektion und unerklärlichen Gewinnen, die von der Finanzpolizei MASAK als nicht nachvollziehbar qualifiziert werden.
1000. Gedenken der Samstagsmütter
Am Samstag, dem 25. Mai 2024, versammelten sich die Angehörigen von im Polizeigewahrsam verschwundenen Menschen und Menschenrechtsaktivist:innen zum 1000. Mal vor dem Galatasaray-Gymnasium in Istanbul. In den vergangenen Jahren wurde diese Kundgebung der „Samstagsmütter“ stets von Festnahmen begleitet, selbst nachdem das Verfassungsgericht die Aktion für zulässig erklärt hatte. Dieses Mal wurde der Protest jedoch zugelassen. Die Vorsitzende der Istanbuler Niederlassung des Menschenrechtsvereins wies darauf hin, dass nach wie vor das Schicksal vieler Verschwundener ungeklärt sei. Einige wenige konnten in namenlosen Gräbern mit Spuren schwerer Folter gefunden werden.
Im Zusammenhang mit dem traurigen Jubiläum berichtete Hazal Özvarış auf dem Nachrichtenportal T24 über die Arbeit der Stiftung für Massengräber sowie die Arbeit der Diyarbakır-Sektion des türkischen Menschenrechtsvereins IHD. Die 2014 gegründete Stiftung hat eine interaktive Karte veröffentlicht, die Informationen zu über 348 Massengräbern bereitstellt. Nur 45 von ihnen wurden bisher geöffnet, wobei 281 Leichen geborgen wurden. Bei den Massengräbern handelt es sich überwiegend um Tote nach Gefechten zwischen Sicherheitskräften und der PKK in den 1980er und 1990er Jahren. Es wird jedoch vermutet, dass sich hier auch zahlreiche „Verschwundene“ finden lassen. Die Öffnung solcher Massengräber dient nicht nur der Bergung der Toten, sondern auch der forensischen Beweissicherung und ist darum ein aufwändiger Prozess. Da nach nur kurzer Unterbrechung wieder zu einer Politik der Straflosigkeit zurückgekehrt wurde, ist nach Einschätzung des Menschenrechtsvereins IHD in Diyarbakır das staatliche Interesse an der Öffnung der Gräber gering.
WIRTSCHAFT UND SOZIALES
Mit 75 Prozent Jahresinflation im Juni ist vermutlich der Gipfelpunkt erreicht worden, gleichwohl liegen die monatlichen Inflationsraten nach wie vor über drei Prozent. Dies hat Folgen für die Einkommensverteilung und trifft vor allem die mittleren und niedrigeren Einkommensgruppen besonders hart. Die Opposition fordert darum eine Erhöhung von Mindestlohn und Mindestrente, doch wird dies von der Regierung mit Hinweis auf das Inflationsbekämpfungsprogramm zurückgewiesen.
Teuerung und Einkommensverteilung
Laut Angaben des Türkischen Statistikinstituts erreichte die Jahresinflation mit über 75 Prozent ihren vorläufigen Höchststand. Allein von Januar bis Juni stiegen die Verbraucherpreise um knapp 25 Prozent. Die meisten Prognosen für die Inflation zur Jahreswende liegen zwischen 38 und 45 Prozent. Dies würde bedeuten, dass all jene, deren Einkommen im Laufe des Jahres nicht entsprechend angepasst wird, in gleichem Maße einen Kaufkraftverlust erleiden. Eine Schätzung, die bereits auf den offiziellen Angaben zur Inflation beruht, von denen viele Beobachter:innen davon ausgehen, dass diese zu niedrig angesetzt sind.
Automatische Erhöhungen, um die Inflation auszugleichen, sind für Beamt:innen und Rentner:innen, aber auch in einigen Tarifverträgen vorgesehen. In den vergangenen zwei Jahren wurde außerdem jeweils zum 1. Juli eine zweite Erhöhung des Mindestlohns vorgenommen. In diesem Jahr entfällt sie jedoch. Bei den Empfänger:innen von Mindestrenten erfolgt keine automatische Erhöhung der Mindestrente. Die Mindestrente setzt sich zusammen aus dem Rentenanspruch und einer Zuzahlung aus dem Haushalt, der die Rente dann auf das Niveau der Mindestrente aufstockt. Die gesetzliche Erhöhung der Rente um die Inflation im ersten Halbjahr erhöht dann zwar den Rentenanspruch. Doch weil die Mindestrente nicht gesetzlich angehoben wurde, verringert sich dadurch nur die staatliche Zuzahlung. Aus diesem Grund haben Empfänger:innen von Mindestrenten im vergangenen Jahr keine Erhöhung ihrer Zahlungen erhalten. Auch für dieses Jahr ist eine Erhöhung der Mindestrente zur Jahresmitte nicht vorgesehen.
Zu den bekannten Auswirkungen hoher Inflation gehört, dass die Schere zwischen niedrigen und hohen Einkommen weiter auseinandergeht. Dies zeigt sich auch in der Einkommensstatistik des Türkischen Statistikinstituts. Von 2014 bis 2023 ist der Anteil der niedrigsten vier Einkommensgruppen (80 Prozent) am Gesamteinkommen gesunken, während der Anteil der höchsten Einkommensgruppe von 45,9 auf 49,8 Prozent gestiegen ist. Das bedeutet, dass die obersten 20 Prozent fast die Hälfte des verfügbaren Einkommens besitzen.
Dies bedeutet auch, dass die Einkommensgruppen in unterschiedlicher Weise von der Inflation betroffen sind. Während Haushalte in der niedrigsten Einkommensgruppe mehr als 36 Prozent ihres Einkommens für Nahrungsmittel und alkoholfreie Getränke aufwenden müssen, beträgt dieser Anteil in der höchsten Einkommensgruppe nur gut 14 Prozent. Mit über 78 Prozent liegt die Jahresinflation in dieser Ausgabengruppe jedoch über dem Gesamtindex. Das bedeutet, dass die niedrigste Einkommensgruppe überdurchschnittliche von der Inflation betroffen ist. Betrachtet man den Zeitraum von zehn Jahren, so ist der Anteil der Ausgaben für Nahrungsmittel und alkoholfreie Getränke in der niedrigsten Einkommensgruppe von 28,8 Prozent in 2014 auf 36,6 Prozent in 2023 angestiegen.
Kritik am Inflationsbekämpfungsprogramm
Das im vergangenen Jahr von Finanzminister Mehmet Şimşek eingeleitete Programm zur Senkung der Inflation setzt vor allem auf eine Erhöhung des Leitzinses. Begleitet wird es von einer Drosselung des Anstiegs des Kreditvolumens sowie einem Sparprogramm für öffentliche Haushalte. Ziel ist es, durch eine Senkung der öffentlichen und privaten Nachfrage den Spielraum für Preiserhöhungen zu verringern. Parallel dazu spielen die Devisenkurse eine wichtige Rolle, weil Importprodukte für die türkische Industrie von hoher Bedeutung sind und eine Schwäche der Türkischen Lira automatisch zu Druck auf die Warenpreise führt. In diesem Zusammenhang hat die Türkische Zentralbank bis zur Kommunalwahl die Türkische Lira gestützt, was sich aus einem Rückgang ihrer Devisenreserven ablesen lässt. Seit der Kommunalwahl fließen aufgrund des hohen Zinsniveaus Devisen ins Land. Durch Aufkauf von Devisen hält die Zentralbank die Kurse stabil und baut die verlorenen Reserven wieder auf. Die Folge ist, dass die Devisenpreise deutlich hinter die allgemeine Preisentwicklung zurückfallen. Die Folge ist eine reale Aufwertung der Türkischen Lira, was zu einer Verteuerung von Exporten und Verbilligung von Importen führt. Daraus wird schnell deutlich, dass eine solche Politik nicht über einen längeren Zeitraum praktikabel ist, weil sie Risiken für die Leistungsbilanz birgt.
Makaber ist jedoch, dass die größten Einsparungen im öffentlichen Dienst durch die ausbleibende Erhöhung der Mindestrente erzielt werden. Die Senkung der privaten Nachfrage wird insbesondere über die rückläufige Kaufkraft der niedrigen und mittleren Einkommensgruppen erzielt. Im Gegensatz dazu bleibt die höchste Einkommensgruppe, die in den vergangenen Jahren von den geldpolitischen Experimenten profitierte, vergleichsweise ungeschoren.
Hinzu kommt die niedrige Festsetzung bei den Aufkaufpreisen einiger landwirtschaftlicher Produkte. Insbesondere die Preise für Tee und Weizen haben jüngst bei den Erzeugern für Unmut gesorgt, weil sie unter den Herstellungskosten liegen. Zumindest beim Weizen verbinden sich dabei Einsparbemühungen mit politischen Fehlentscheidungen. Einer Analyse des Landwirtschaftskolumnisten Ali Ekber Yıldırım von der Wirtschaftsplattform „ekonomim” kommt zu dem Schluss, dass derzeit weder Lagerkapazitäten für neuen Weizen noch ausreichende Mittel für den Aufkauf vorhanden sind. Hintergrund ist, dass die türkische Regierung bei den Verhandlungen über den Getreidekorridor, mit dem Weizen aus der Ukraine den Weltmarkt erreichen sollte, auf preisgünstigen Getreideimport aus Russland gesetzt hat, um es als Mehl weiterzuverkaufen. Dabei wurde jedoch mehr Weizen importiert als erforderlich. Wenn die türkischen Betriebe jedoch ihre Ernte nicht an die staatliche Einkaufsagentur verkaufen können, verlieren sie ihre Anbauprämie und erhalten in der Regel Preise unter dem ohnehin geringen festgesetzten staatlichen Einkaufspreis.
Während die Regierung Forderungen nach einer Zwischenerhöhung des Mindestlohns und der Mindestrente als Populismus zurückweist, der die Inflationsbekämpfung gefährde, bemüht sich die CHP darum, den Unmut über die verschlechterten Lebensbedingungen in thematischen Meetings zu Renten, Mindestlohn, Weizen und Tee zu organisieren. Folgt man den veröffentlichten Meinungsumfragen ist diese Strategie populär und verschafft ihr weitere Unterstützung.
AUSSENPOLITIK
Die Ablehnung des militärischen Vorgehens Israels im Gaza-Streifen ist eines der wenigen Themen, in denen Anhänger:innen der Regierung und Opposition sich einig sind. Die türkische Regierung verfügte am 9. April 2024 einen vollständigen Handelsstopp mit Israel und beteiligt sich am Verfahren gegen Israel vor dem Internationalen Gerichtshof. Aus Sicht vieler Türk:innen kamen beide Schritte allerdings zu spät. Die EU-Wahlen haben in der Türkei wenig Aufsehen erregt. Was als Dialoginitiative der EU gegenüber der Türkei geplant war, hat zu neuen Verstimmungen geführt.
Palästina-Politik
Auf den Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 und die darauffolgenden Vergeltungsangriffe der israelischen Armee reagierte die türkische Regierung zunächst mit Aufrufen zur Besonnenheit und unverzüglicher Einstellung der Kampfhandlungen. In den türkischen Medien nahm die Berichterstattung mit Fokus auf die Folgen für die palästinensische Zivilbevölkerung breiten Raum ein. Proteste vor dem israelischen Generalkonsulat in Istanbul wurden zugelassen, zugleich jedoch der Schutz jüdischer Einrichtungen verstärkt. Durch eine rege Telefon- und Besuchsdiplomatie versuchte sich die türkische Regierung in die Rolle eines Vermittlers zu begeben. Doch die Verurteilung von Angriffen der israelischen Armee auf dichtbesiedelte Gebiete in Gaza führte schnell zu Brüchen mit westlichen Verbündeten.
Mit der Charakterisierung der Hamas als „islamische Befreiungskämpfer“ und später gar als „vorgeschobene Verteidiger Anatoliens“ und dem Empfang des Hamas-Chefs Haniyeh im April 2024 könnte der Versuch der türkischen Regierung verbunden gewesen sein, Einfluss auf die Hamas zu gewinnen. Von den europäischen Staaten wurden diese Positionen jedoch zurückgewiesen, die gerade erneuerten diplomatischen Beziehungen der Türkei mit Israel hierdurch stark belastet.
Dem hohen politischen Gewicht des Gaza-Konflikts in der türkischen Außenpolitik steht jedoch zugleich gegenüber, dass der Handel mit Israel trotz aller zivilgesellschaftlichen Boykottaufrufe bis zur Kommunalwahl ausgebaut wurde und auch kriegswichtige Produkte umfasste. Nach der Kommunalwahl erließ die türkische Regierung dann erst ein teilweises und schließlich ein vollständiges Handelsembargo. Auch der von Südafrika initiierten Völkermordklage vor dem Internationalen Gerichtshof schloss sich die Türkei erst zu diesem Zeitpunkt an.
Diese relativ inkonsequente Haltung verhinderte, dass sich die nunmehr entschiedenere Positionierung der türkischen Regierung in Form neuer Unterstützung durch die türkische Bevölkerung oder einer Stärkung ihrer Vermittlerrolle im Konflikt auswirken konnte.
Verärgerung über EU-Politik
Spätestens seit der Wiederwahl von Staatspräsident Erdoğan im Mai 2023 hat die EU ihr Augenmerk verstärkt auf das Projekt gerichtet, die Beziehungen zur Türkei durch einen Dialog jenseits der eingefrorenen Beitrittsverhandlungen zu verbessern. Dabei stand auf der einen Seite insbesondere die Erneuerung des Flüchtlingsabkommens im Fokus, während Visumserleichterungen und die Reform der Zollunion als mögliche Ansatzpunkte galten. Der Hohe Vertreter für Außenpolitik der EU, Josep Borrell, hatte in diesem Zusammenhang eine von der Kommission und dem Rat akzeptierte Politikempfehlung vorgelegt, die vorsieht, positive Schritte der Türkei zu honorieren, aber auch bei negativen Entwicklungen Fortschritte zurückzunehmen. Ursprünglich wurde erwartet, dass die Entscheidung über den Beginn dieser Politik beim EU-Sondergipfel im April getroffen würde. Jedoch wurde dort lediglich beschlossen, die Entscheidung an den Ausschuss der Ständigen Vertreter (COREPER) zu delegieren und eine weitere Vertiefung der EU-Türkei-Beziehungen von einer Änderung der türkischen Zypern-Politik abhängig zu machen.
In Ankara stieß diese Entscheidung auf Verärgerung. Es sei nicht hinnehmbar, dass die vielschichtigen Beziehungen zwischen der Türkei und der EU auf die Zypern-Frage reduziert würden. In einer Erklärung des EU-Präsidiums des türkischen Außenministeriums kündigte die Türkei an, den Dialog mit der EU von nun an auf der Grundlage von Gegenseitigkeit in ausgewählten Feldern nach Geschwindigkeit, Rang und Gegenstand selbst zu gestalten. Angesichts der Tatsache, dass die Aufnahme Zyperns in die EU auf der Grundlage des Annan-Plans erfolgte, der von der griechisch-zypriotischen Seite im Referendum abgelehnt wurde, erscheint die europäische Türkei-Politik weder konsistent noch ehrlich.
Mit Blick auf den Ausgang der Wahl zum Europäischen Parlament im Juni 2024 geht man in der Türkei davon aus, dass dieser wenig Einfluss auf die EU-Beziehungen haben wird. Die letzten beiden Türkei-Berichterstatter des Parlaments konzentrierten sich in ihren Berichten angesichts des Verfalls des Rechtsstaats und der Menschenrechtslage in der Türkei vor allem auf Alternativen zum EU-Beitritt. Betrachtet man die beiden derzeit im Europäischen Rat blockierten Dialogfelder mit der Türkei, könnte lediglich die Zollunion durch das Parlament beeinflusst werden. Da jedoch selbst nach Beginn von Verhandlungen kein schneller Abschluss erwartet wird, könnte es durchaus das nächste Parlament sein, das darüber entscheiden muss.
AUS UNSERER ARBEIT
- Leitungswechsel in der FES Türkei: Mit einem festlichen Empfang am 3. Juli wurden Büroleiter Henrik Meyer sowie die stellvertretende Büroleitern Antonia Tilly verabschiedet. Als neue Leiterin der FES Türkei begrüßen wir herzlich Tina Blohm!
- Ende Mai besuchte Nezahat Baradari, Abgeordnete des Deutschen Bundestages, Istanbul und führte Gespräche mit Vertreter:innen der türkischen Zivilgesellschaft und Politik. Auch ein Gespräch zu der Situation von in der Türkei lebenden Deutschen stand auf dem Programm.
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