28.03.2023

Erdbebenkatastrophe im Südosten der Türkei

Fast zwei Monate nach den verheerenden Erdbeben im Südosten der Türkei steht das Land noch immer unter Schock. Viele Menschen haben Angehörige, ihre Wohnung und ihr bisheriges Leben verloren. Das Ausmaß der Zerstörung ist gewaltig und wird nicht nur die betroffene Region, sondern das ganze Land noch viele Jahre prägen. Neben der Bewältigung der Erdbebenfolgen stellen sich jetzt zunehmend auch Fragen nach Verantwortlichkeiten und der besseren Prävention und Bewältigung von Katastrophen von diesem Ausmaß.

Erdbebenkatastrophe im Südosten der Türkei

Zwei  Erdbeben am 6. Februar 2023 haben nach offiziellen Angaben mehr als 50.000 Menschen in elf Provinzen im Südosten der Türkei das Leben gekostet und auch in Nord-Syrien schwere Schäden angerichtet. Die tatsächliche Zahl der Todesopfer dürfte noch weit über der offiziellen Zahl liegen. In den betroffenen türkischen Provinzen lebten rund 15 Mio. Menschen, darunter ca. 1,7 Mio. syrische Geflüchtete. Es sind etwa 232.000 Gebäude eingestürzt oder wurden so schwer beschädigt, dass sie abgerissen werden müssen. Die Vereinten Nationen gehen davon aus, dass die wirtschaftlichen Schäden mehr als 100 Mrd. Dollar erreichen könnten.

Die Türkei wurde schon häufiger von schweren Erdbeben getroffen. Eines der letzten waren die Marmara-Erdbeben in der Nähe der Stadt Izmit im Jahr 1999. In Folge dieser Beben waren die Bauvorschriften verschärft worden, um die Gebäudesicherheit zu erhöhen. Doch trotz der strengeren Bauvorschriften stürzten bei den Erdbeben im Februar 2023 auch viele Gebäude ein, die erst in den letzten Jahren errichtet wurden. Damit hat das Beben auch die Politik erschüttert, denn in den meisten der betroffenen Provinzen regieren die AKP und ihre politischen Vorläufer seit mehr als 30 Jahren und tragen somit auch Verantwortung für Baugenehmigungen und die Umsetzung der Bauvorschriften auf kommunaler Ebene. Durch das Versprechen eines schnellen Wiederaufbaus versucht die Regierung jetzt, den politischen Schaden zu begrenzen.

Wegbereiter der Katastrophe

Die große Zahl von Gebäudeschäden kann nicht allein auf die Stärke derErdbeben zurückgeführt werden. Obgleich die Provinzen von Kahramanmaraş bis Hatay als Erdbebengebiete bekannt sind, wird als Ursache eine ganze Kette an Versäumnissen aufgeführt. Diese beginnt mit städteplanerischen Entscheidungen, bei denen keine Rücksicht auf den Baugrund genommen wurde, setzt sich über die Qualifikation der Bauunternehmen sowie deren Architekt_innen und Ingenieur_innen fort, und mündet in Mängel bei der Bauaufsicht und Zertifizierung. Proben des Betons eingestürzter Häuser weisen immer wieder auch grobe Mängel bei der Bauausführung auf. Teilweise wurde der Beton mit Steinen gestreckt, teilweise hatte er jede Festigkeit verloren. Ungeeigneter Baugrund, nicht daran angepasste Bauprojekte und Mängel am Bau führten daher dazu, dass bei den beiden Erdbeben vom 6. Februar 2023 auch relativ neue Gebäude einstürzten.

Aus der Provinz Hatay wiederum wird berichtet, dass die Katastrophenschutzbehörde AFAD bereits Jahre zuvor auf die Probleme des Baugrunds und den Zustand vieler Gebäude aufmerksam wurde, jedoch nichts unternommen wurde. Dies gilt auch für öffentliche Gebäude, so dass nach der Katastrophe nur noch ein Krankenhaus einsatzbereit war, ein anderes sogar einstürzte. Dabei weisen Bauingenieure darauf hin, dass die Verschärfung der Bauvorschriften nach den Marmara-Erdbeben von 1999 den Zusammensturz von Gebäuden weitgehend hätten ausschließen müssen.

Das Netzwerk „Check and Balances“ (Dengeve Denetim Ağı) zeigt in einem Bericht zum Erdbeben auf, welche Maßnahmen seit 1999 getroffen wurden, um türkische Städte sicherer zu machen. Dabei steht neben einer neuen Form der Bauüberwachung auch die systematische Stadtsanierung im Vordergrund. Das Netzwerk bemängelt jedoch, dass mit der flächendeckenden Einführung einer externen Bauaufsicht durch spezialisierte Unternehmen zu lange gewartet und die Abhängigkeit dieser Unternehmen von Bauunternehmen erst in den letzten Jahren beendet wurde. Im Hinblick auf die Stadtsanierung zeigt sich, dass diese vielfach nicht auf besonders gefährdete, sondern besonders gewinnträchtige Stadtquartiere angewendet wurde.

Die Wurzeln für diese Profit- statt Gemeinwohlorientierung gehen auf eine Politik zurück, die zu Beginn des Jahrhunderts vom IWF gefördert und zunächst von einer Parteienkoalition unter Bülent Ecevit begonnen und dann ab 2002 von den AKP-Regierungen weiter fortgeführt wurde. Im Zentrum dieser Politik standen Privatisierung und Deregulierung. In der ersten Dekade der AKP-Regierungen führte dies insbesondere in weiten Teilen Anatoliens zu einem hohen Wirtschaftswachstum, das wichtige Impulse für die Entwicklung der Städte gab. Doch mit dem Stocken der EU-Reformprozesse und der zunehmenden Isolation nach dem arabischen Frühling flaute diese Dynamik ab. Den Ausweg fand die AKP-Regierung in einem bauorientierten Entwicklungsmodell. Damit wurden gleich mehrere Ziele kurz und mittelfristig relativ leicht erreicht. So konnte zum einen durch umfangreiche Neubauten und Sanierung alter Gebäude Wohnraum für die stark wachsende Bevölkerung geschaffen und zum anderen Wirtschaftswachstum und Beschäftigung generiert werden. Unter den AKP geführten Regierungen entwickelte sich die Bauwirtschaft zum zentralen strategischen Wirtschaftssektor. Es wurden große öffentliche Aufträge an neu entstehende oder kleinere Firmen vergeben, die zum Teil mit der sogenannten Erdbebensteuer finanziert worden sind. Mit dem sich entwickelnden Bauboom entstand eine neue Klasse von Bauunternehmer_innen. An diesem Geschäft mit seinen hohen Gewinnmargen beteiligten sich zunehmend Personen, die weder über eine entsprechende Ausbildung, noch über Erfahrungen im Bauwesen verfügten. Es bildete sich ein Geflecht von Beziehungen zwischen Politik und Bauwirtschaft, das sowohl bei Planungsentscheidungen als auch bei der Baukontrolle wirksam wurde.

Mängel beim Katastrophenschutz

Von den beiden Erdbeben war ein sehr großes Gebiet betroffen. Wichtige Verkehrsverbindungen wurden unterbrochen, der Flughafen von Hatay musste zunächst seinen Betrieb einstellen, die Telekommunikation fiel weitgehend aus. Doch obgleich bereits am 6. Februar ein internationaler Aufruf zur Soforthilfe erging, kamen die Bergungs- und Hilfsmaßnahmen in den ersten beiden Tagen nach dem Erdbeben nur langsam in Gang. Unklar blieb auch die Prioritätensetzung bei den Hilfsmaßnahmen. Aus den stark zerstörten Provinzen Hatay und Adıyaman kam der Vorwurf, man habe sie schlicht vergessen. Während aus allen Teilen der Türkei Hilfsgüter und Freiwillige herbeiströmten, bemühte sich die Katastrophenschutzbehörde AFAD, die Verteilung der Güter zu zentralisieren. Ohne Lagerhäuser und mit eingeschränkter Telekommunikation war AFAD für die kommunalen Verantwortlichen jedoch kaum zu erreichen. Viele Hilfsgüter und -teams erreichten das Katastrophengebiet erst Tage später.

Zur eingeschränkten Zusammenarbeit von AFAD, Kommunal- und Provinzverwaltung kam noch das Misstrauen der Regierung gegen zivilgesellschaftliche Organisationen, die unmittelbare Hilfe leisten wollten, teilweise jedoch abgewiesen, teilweise auch polizeilich an ihrer Tätigkeit gehindert wurden. Die auf Hilfe wartende Bevölkerung verfolgte dies mit Fassungslosigkeit.

Ein Vorstandsmitglied der Ärztekammer Istanbul, das unmittelbar nach dem Erdbeben ins Katastrophengebiet reiste und in Adıyaman und Hatay ärztliche Hilfe leistete, erklärte, dass auch einen Monat nach den Erdbeben die Gesundheitsversorgung ausgesprochen schwierig sei. Vom einzigen Krankenhaus sei nur die Notaufnahme arbeitsfähig gewesen. Feldkrankenhäuser hätten lediglich aus einigen Betten in einem Zelt bestanden. Auch die Lebensbedingungen seien für Erdbebenopfer wie Helfende ausgesprochen schwierig.

Vermutlich aus Furcht vor den politischen Folgen der Diskussionen, die das Erdbeben ausgelöst hatte, wurden schließlich durch die Regierung einige Dienste der sozialen Medien kurz nach den Beben eingeschränkt. Angesichts der zu diesem Zeitpunkt nach wie vor nur eingeschränkten Telekommunikation kam damit der Ausfall eines weiteren Kommunikationskanals hinzu.

Binnenmigration als Herausforderung für Region und Metropolen

Angesichts der vielen zerstörten Häuser, fehlenden Zelte und Problemen bei der Wasser-und Stromversorgung hat eine große Flucht aus dem Katastrophengebiet eingesetzt, in dem zuvor an die 15 Millionen Menschen lebten. Die Regierung versuchte, Studierendenwohnheime als vorübergehende Quartiere zu mobilisieren. Die Universitäten mussten daher zum Fernunterricht übergehen, wobei nach den neuesten Meldungen aber nur in rund 20 % der Studierendenwohnheime wirklich Erdbebenopfer untergebracht worden sind.

Viele Erdbebenopfer sind aus den Städten in die Dörfer zu Verwandten gezogen, andere sind in weiter entfernten Städten untergekommen. Einen Überblick, wie viele Geflüchtete aus dem Erbebenbiet andere Städte aufgenommen haben, gibt es bisher nicht. Fühlbar war die Zuwanderung unmittelbar auf dem ohnehin angespannten Wohnungsmarkt der Metropolen. In Ankara beobachtete die Berufskammer der Immobilienmakler einen Preisanstieg um 100 Prozent innerhalb eines Monats. Doch auch für die kommunale Infrastruktur, das Gesundheitswesen und die Schulen der aufnehmenden Städte stellt der plötzliche Bevölkerungszuwachs eine Herausforderung dar.

Für die Provinzen im Katastrophengebiet erweist sich die starke Abwanderung als ein Problem. Unternehmen geben an, dass nur 30 Prozent ihrer Belegschaft nach dem Erdbeben ihre Arbeit wieder aufgenommen hat. Studien zeigen, dass eine Rückkehr unwahrscheinlicher wird, je mehr Zeit verstreicht. Auch wenn die Regierung anderes verspricht – angesichts des Ausmaßes der Katastrophe wird der Wiederaufbau der Region noch Jahre dauern.

Angst vor einem Istanbul-Erdbeben

Angesichts der schweren Schäden und der großen Schwierigkeiten bei der Versorgung der Bevölkerung im Erdbebengebiet hat die Diskussion über die Erbebengefahr in Istanbul wieder an Bedeutung gewonnen. Schätzungen gehen davon aus, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit in den nächsten zehn Jahren mit einem schweren Erdbeben in der Millionenmetropole gerechnet werden muss. Das Wohnungsbauministerium hat angekündigt, 1,5 Mio. Wohnungen umzusiedeln. Details wie Standorte, Zeitplan und Finanzierung blieben jedoch offen. Die Großstadtverwaltung bietet einen kostenlosen Test zur Gebäudesicherheit an. Sollten sich dabei bedeutende Baumängel zeigen, soll bei der Wiederherstellung des Gebäudes geholfen werden. Mit einer Änderung der Bauvorschrift macht die Großstadtverwaltung zudem eine regelmäßige Prüfung der Bausicherheit für alle Gebäude alle fünf Jahre verpflichtend. Auch die Anforderungen an neue Bauprojekte wurden weiter verschärft. Gleichwohl ist offensichtlich, dass angesichts der Bevölkerungszahl von rund 16 Mio. Menschen mit einer kurzfristigen Lösung nicht zu rechnen ist.

Politisches Nachbeben

Während Staatspräsident Erdoğan das Erdbeben und seine Folgen als „Schicksal“ darstellt und seine Anhänger_innen nicht müde werden, die Seltenheit von zwei schweren Erdbeben an einem Tag zu betonen, macht die Opposition die Regierung für das Ausmaß der Schäden und die Pannen bei den Hilfsleistungen verantwortlich. Bürokratische Strukturen, die auf eine Weisung des Staatspräsidenten warten müssen, und eine nicht an Qualifikation und Eignung orientierte Personalpolitik haben nach dem Übergang zum Präsidialsystem die staatliche Handlungsfähigkeit verringert. Misstrauen im Hinblick auf die Verwendung von Mitteln führten zudem dazu, dass viele Menschen nicht bereit waren, an die Katastrophenschutzbehörde AFAD oder die Hilfsorganisation Roter Halbmond zu spenden, sondern andere Organisationen oder Hilfsaktionen unterstützten. Im Hinblick auf einen neu geschaffenen Wiederaufbaufonds wird von der Opposition auf mangelnde Transparenz hingewiesen. Auch wird der Vorwurf erhoben, dass ein Teil der bereits erfolgten Ausschreibungen für den Wiederaufbau an Unternehmen ging, die Verbindungen zur AKP haben. Bauingenieure aus der Region befürchten außerdem, dass die Bauaufträge zu teuer vergeben wurden. In einem Gespräch mit dem Vorsitzenden der DEVA-Partei Ali Babacan verwiesen sie auf eine Verordnung zu Baurichtpreisen, die am 11. Februar 2023 erlassen wurde - bei den vergebenen Bauaufträgen sei jedoch mehr als das Doppelte angesetzt worden.

Bisher konzentriert sich die juristische Aufarbeitung der Verantwortung für die Erdbebenschäden auf die Bauunternehmer_innen, die die Gebäude errichteten. Jedoch zeigen Erfahrungen aus Aufarbeitungen früherer Erdbeben, dass die meisten der eingeleiteten Ermittlungsverfahren im Sande verlaufen und auch die Anklagen selten zu einer Verurteilung führen. Zugleich führt der Fokus auf die Bauunternehmerschaft auch zu einer Entlastung der Regierungsparteien, die in den am stärksten von den Erdbeben betroffenen Gebieten die Kommunalpolitik zu großen Teilen und über Jahrzehnte beherrschten und damit für die Baugenehmigungen verantwortlich zeichnen.

Die Strategie der Regierung, um die Folgen des Erdbebens für ihre politische Zukunft zu senken, ist zudem ein schneller Wiederaufbau. Bereits im März sollen für verschiedene Projekte die Grundsteine gelegt werden. Innerhalb eines Jahres soll ein Großteil des Wiederaufbaus bewältigt werden. Mit dieser Strategie drohen neue Großprojektewieder ohne jede Beteiligung, ohne umfassende Planung mit Berücksichtigung der Risiken und ohne Transparenz zu entstehen. Dies beginnt bei der Vergabe der Bauaufträge, bei denen sowohl die Höhe als auch die Auswahl der eingeladenen Firmen intransparent sind, und setzt sich über die Standorte für den Wiederaufbau fort.

Ein weiterer politischer Faktor ist die Frage, wie unter den gegenwärtigen Umständen eine ordnungsgemäße Wahl von Staatspräsident und Parlament stattfinden kann. Millionen von Menschen sind auf die umliegenden Provinzen und die Metropolen verstreut. Die Wählerverzeichnisse müssen neu erstellt werden. Den Menschen in der Katstrophenregion muss die Möglichkeit gegeben werden, unter verhältnismäßigem Aufwand ihre Stimme abgeben zu können. Sollten die Wahlen mit nur einer knappen Mehrheit entschieden werden, könnte die Diskussion über die Wahlbedingungen im Erdbebengebiet dazu führen, das Wahlergebnis in Frage zu stellen.

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Aus Unserer Arbeit

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In dem Deutschlandfunkbeitrag „Türkisches Oppositionsbündnis einigt sich auf Erdogan-Herausforderer“ (7.3.2023) kommentierte Henrik Meyer die Ernennung des Präsidentschaftskandidaten der Opposition.

In dem Beitrag „Hilft Erdbeben 3 Monate vor Präsidentenwahl der Opposition?“ gibt Antonia Tilly, stlv. Leiterin der FES Türkei, einen Tag nach dem Beben eine Einschätzung zu den politischen Folgen (Deutschlandfunk Kultur, 07.02.2023).

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Der Artikel „Feine Antennen“ befasst sich mit der Arbeit von deutschen politischen Stiftungen im Ausland. Henrik Meyer berichtet aus der Arbeit der FES in der Türkei. (Das Parlament, 06.03.2023)

Im Auftrag der FES Türkei wurde die Studie „Die Auswirkungen des deutschen Lieferkettensorgfaltspflichtengesetzes auf die Türkei“ erstellt (auf Türkisch). Mit Einführung des neuen Gesetztes ab 2023 können deutsche Unternehmen, die in der Türkei gegen Menschenrechtsstandards verstoßen, auch in Deutschland belangt werden.

Anfang Februar besuchte eine Delegation von sechs Abgeordneten des Deutschen Bundestages unser Büro in Istanbul, wo sie Gespräche mit Vertreter_innen der türkischen Zivilgesellschaft führte.

Am 21. März durften wir den SPD-Parteivorsitzenden Lars Klingbeil im Rahmen eines Türkeibesuchs in Istanbul zu einem Meinungsaustausch mit Vertreter_innen der Zivilgesellschaft begrüßen.

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