Die Parlamentswahl erfolgt nach Verhältniswahl auf der Grundlage von Wahlbezirken, die in der Regel mit Provinzgrenzen übereinstimmen. Nur einige Metropolen wie Istanbul und Ankara verfügen über mehrere Wahlbezirke. Bei dieser Wahl greift erstmals die im vergangenen Jahr erlassene Änderung des Wahlrechts. Dies bedeutet, dass die Sperrklausel für den Einzug ins Parlament von zehn auf sieben Prozent gesenkt wird. Zur Überwindung der Sperrklausel werden, falls eine Partei in einem Bündnis antritt, die Bündnisstimmen insgesamt gezählt. Bei der Mandatsvergabe dagegen werden nur die auf die jeweilige Partei entfallenden Stimmen bewertet. Theoretisch ist es also möglich, dass eine kleinere Partei als Bestandteil eines Wahlbündnisses zwar die 7%-Hürde überschreitet, sich jedoch ohne Abgeordnete wiederfindet, weil nicht genügend Stimmen auf sie als Partei entfallen sind. Letzteres war vom Regierungsbündnis wohl mit dem Ziel durchgesetzt worden, Konfliktstoff in die Oppositionsbündnisse einzubringen. Doch wie sich zeigt, blieb sie selbst davon nicht verschont, da sich auch der AKP-Koalitionspartner MHP dem Risiko ausgesetzt sieht, in diesem System kaum Abgeordnetensitze zu gewinnen.
Zu den Besonderheiten der türkischen Politik gehört auch der Prozess zur Auswahl der Kandidierenden für die Parlamentswahl. Das Parteiengesetz sieht grundsätzlich die Möglichkeit von Vorwahlen in den Provinzverbänden der Parteien vor. Da jedoch der Zeitraum für die Wahl durch die Vorverlegung per Präsidialdekret von 90 Tagen auf 60 Tage reduziert wurde, ist auch die Zeit für die Erstellung der Kandidierendenlisten kurz. Kleine Bündnisparteien erhalten dabei häufig Plätze auf den Listen ihrer größeren Partner. Die Folge von Zeitnot und Bündnispolitik ist, dass die letzte Entscheidung über die Nominierung von Kandidierenden bei den Parteivorsitzenden liegt. Dies schafft eine hohe Abhängigkeit der Parlamentarier_innen von den Vorsitzenden. Zudem führt es zum Teil zu massiven parteiinternen Konflikten. So erklärte beispielsweise der Vorstand der İyi-Partei in Edirne zusammen mit zahlreichen Mitgliedern den Austritt aus der Partei, weil die Ergebnisse einer Vorabstimmung zur Kandidatenauswahl fürs Parlament übergangen wurden.
Die Ermittlung der gewählten Kandidat_innen erfolgt pro Wahlbezirk über das D’Hondt-Höchstzahlenverfahren. Mathematisch wäre es darum optimal, wenn die Bündnisparteien auch gemeinsame Kandidierendenlisten aufstellten. Gleichwohl gibt es bei den Parteien dagegen beträchtliche Widerstände. Für ihre Sichtbarkeit und Wahrnehmung als eigenständige Partei ist es für sie wichtig, in möglichst vielen Wahlbezirken unter dem eigenen Logo anzutreten. Auch gibt es bei verschiedenen Wählergruppen Widerstand, die Partei zu wählen, die die Liste führt. Und in den Genuss der staatlichen Parteienförderung kommen nur Parteien, die sich an der Wahl beteiligen und mindestens 3 Prozent der Stimmen bekommen.
Beim Regierungsbündnis ist es zu keinen gemeinsamen Kandidierendenlisten gekommen. Jede der vier Bündnisparteien kandidiert mit eigenen Listen, eine Koordination scheint es nur im Hinblick auf einzelne Provinzen gegeben zu haben. Bei der AKP- Kandidierendenliste fällt auf, dass die Hälfte der Abgeordneten ausgetauscht wurde. Zur Erklärung wird auf eine Regel hingewiesen, die maximal drei Amtszeiten für das Parlament vorsieht. Diese Regel besteht zwar seit Beginn der Parteigeschichte, wurde jedoch selektiv angewendet. Bis auf den Minister für Tourismus und Kultur und den Gesundheitsminister wurden alle übrigen als Kandidierende für die Parlamentswahl aufgestellt. Dies bietet zum einen die Möglichkeit einer vollständigen Kabinettsumbildung, zum anderen aber auch die Möglichkeit, jetzt ausscheidenden Abgeordneten Regierungsposten in Aussicht zu stellen.
Besonders schwierig stellte sich die Situation für die CHP dar. Nachdem die vier kleineren Bündnisparteien den Gedanken einer gemeinsamen Liste verworfen hatten, fanden sie nun Platz auf der CHP- Kandidierendenliste. Da zudem die Bewerber_innenzahl stark gestiegen ist, mussten auch hier Viele mit Versprechen auf Posten nach einem Wahlsieg vertröstet werden. 71 Gäste aus anderen Bündnisparteien hat die CHP insgesamt aufgenommen, davon 20 auf aussichtsreichen Listenplätzen. Möglicherweise steht der Gedanke dahinter, dass diese 20 Abgeordneten sich zusammentun und eine Fraktion der Kleinparteien gründen könnten. Unter den Listen-Gästen stieß Sadullah Ergin, früherer AKP-Justizminister und jetzt von der Gelecek Partei aufgestellt, auf den stärksten Widerstand. In seine Amtszeit fielen die politischen Strafverfahren Ergenekon und Balyoz, die auch zur Verfolgung von CHP-Politiker_innen geführt hatten.
In 16 Provinzen treten CHP und İyi-Partei mit gemeinsamen Listen an. Um das Verfahren zu erleichtern, wird der sog. Reißverschluss herangezogen. In Provinzen mit hohem Potenzial für die İyi-Partei erhält diese den ersten, die CHP den zweiten Listenplatz. In anderen Provinzen ist es umgekehrt.
Diskussionen gab es auch zwischen HDP und TİP. Die HDP hatte sich aufgrund des drohenden Parteiverbots für eine Kandidatur über die Listen der YSP (Yeşiler ve Sol Gelecek Parti - Grüne und linke Zukunftspartei) entschieden. Ihrer Bündnispartnerin TİP (Türkiye İşçi Partisi - Türkische Arbeiterpartei) legte sie nahe, sich den gemeinsamen Listen anzuschließen. Doch die TİP reichte in 41 Wahlbezirken, überwiegend in Großstädten, eigene Listen ein.
Für Enttäuschung bei der Besetzung der Listenplätze nahezu aller Parteien sorgte zudem der geringe Frauenanteil. Die Vorsitzende des Vereins für die Förderung von Kandidatinnen (KA.DER) schätzt, dass mit den aktuellen Listen die Repräsentation von weiblichen Abgeordneten im Parlament insgesamt keine 20 Prozent erreichen könne (aktuell rund 17%). Hierbei spielt neben der Anzahl der Kandidatinnen auch ihre Platzierung auf den Listen eine Rolle. Für die Regierungspartei AKP treten 487 Männer und nur 113 Frauen an, für die größte Oppositionspartei CHP 434 Männer und 147 Frauen. Besser steht das Linksbündnis dar: die links-grüne YSP, auf deren Liste die HDP antritt, nominierte mehr als 200 Frauen, ihre Bündnispartnerin TİP stellte 161 weibliche von ihren insgesamt 398 Kandidierenden auf.